Sonntag, 3. November 2019

Die Letzten ihrer Art, Maja Lunde

Punktgenau zur Buchmesse ist Maja Lundes dritter Umweltroman erschienen, den sie im Rahmen des Norwegischen Ehrengastprogramms präsentieren konnte. Nach Bienen und Wasser widmet sich der dritte Teil des Umweltquartetts nun dem Artensterben. Konkret geht es um die Erhaltung des Takhi oder Prewalski-Pferdes, einer mongolischen Wildpferderasse. Es handelt sich dabei um eine Art Ur-Pferd, eine nicht zähmbare Rasse, die für den Menschen also keinen Nutzen als Reit- oder Nutztier hat.


Wie schon in „Die Geschichte der Bienen“ werden parallel drei Geschichten von drei (bzw. vier) Personen in drei Epochen erzählt. Der russische Zoologe Michail erfährt 1881 in St. Petersburg, dass es in der mongolischen Steppe angeblich noch Wildpferde gebe, obwohl man diese für seit tausenden von Jahren ausgestorben gehalten hatte. Er ist fasziniert von der Idee, diese verschollene Art in Tiergärten sichtbar zu machen und durch Züchtung zu vermehren. Er plant eine Expedition in die Mongolei, um dort Tiere zu fangen und nach Europa zu bringen. Er bittet den deutschen Zoologen Wilhelm Wolff um Hilfe, der Erfahrung mit derart exotischen Expeditionen hat. (Die Figur des Wolff wurde inspiriert von Carl Hagenbeck, dem Gründer des Hamburger Tierparks Hagenbeck.)

Die deutsche Tierärztin Karin betreibt ein Zuchtprogramm für mongolische Wildpferde in Frankreich. Im Jahr 1992 bringt sie eine kleine Herde davon in die Mongolei, um sie dort wieder auszuwildern. Sie wird von ihrem Sohn Mathias dorthin begleitet und vor Ort unterstützt von dem Mongolen Jochi. Die Beziehung zwischen Mutter und Sohn ist nicht einfach. Welche Rolle Jochi in menschlicher Hinsicht für Karin spielt, ist zunächst unklar.

In der Zukunft, im Jahr 2064 lebt Eva in Süd-Norwegen auf dem Familienbauernhof. Dieser beherbergte einst auch Wildtiergehege, die Eva nach dem Klimakollaps aber größtenteils aufgeben musste. Sie hat genug damit zu tun, sich und ihre 14jährige Tochter Isa (die teilweise miterzählt) zu ernähren. Sie konnte hauptsächlich Nutztiere wie Kühe und Ziegen behalten, da sie Milch und Fleisch geben, hat sich aber auch von ihren beiden mongolischen Wildpferden noch nicht trennen können. Die Art der Wildpferde ist akut bedroht, Eva möchte sie erhalten. In diesem Erzählstrang begegnen wir einer Figur aus dem Band „Die Geschichte des Wassers“ wieder.

Den drei Geschichten ist gemeinsam, dass es stets um einen Existenzkampf geht. Bereits 1881 gelten die Wildpferde als ausgestorben, so dass Menschen sich für die Erhaltung dieser Art einsetzen. Die Notwendigkeit des menschlichen Eingreifens bleibt bis 2064 erhalten. Es sind aber nicht nur die Tiere, die um ihr Überleben kämpfen. Zwei Erzählstränge spielen hauptsächlich in der mongolischen Steppe oder auf dem Weg dorthin. Die Mongolei ist ein unwirtliches Land, in dem kaum Pflanzen wachsen und den größten Teil des Jahres große Kälte herrscht. Mit der Ausrüstung des 19. Jahrhunderts fällt es Menschen schwer, dort zu überleben, die dort nicht geboren wurden. Aber auch über einhundert Jahre später sind -40 Grad keine Freude und erschweren Leben und Arbeit der Menschen. Noch schwerer aber haben es die Menschen in der Zukunft nach dem Klimakollaps. Städte und Kraftwerke sind zerstört, funktionierende Staatsregierungen und öffentliches Leben gibt es nicht mehr, Menschen stehlen einander die letzten Nahrungsmittel und sind permanent auf der Flucht, auf der Suche nach Nahrung und Lebensraum.

Zusätzlich zum äußeren Kampf hat jede der drei Geschichten einen menschlichen Konflikt zum Gegenstand. Die Erzähler kämpfen mit einem Teil ihrer eigenen Persönlichkeit, eigenem menschlichen Versagen oder den Beziehungen zu ihnen nahestehenden Menschen. Alle wachsen im Laufe der Geschichte und offenbaren Teile ihrer Vergangenheit, die zu den heutigen Konflikten beigetragen haben.

„Wolff war der Beste auf seinem Gebiet. Mein Respekt vor ihm wuchs mit jeder Geschichte, die ich las, und jetzt stand ich also im Briefwechsel mit ihm … mit ihm. Obwohl ich diese Korrespondenz unsagbar schätzte und mich auf jeden seiner Briefe diebisch freute, reichte das allein nicht aus. Der finanzielle Druck stieg von Tag zu Tag.
Zu guter Letzt, ein halbes Jahr nachdem ich den Schädel in Poljakows Büro gesehen und die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte, erhielt ich einen Brief, dessen Inhalt die Vorstellungen meiner kühnsten Träume übertraf. (…)
Im Stehen las ich den Brief weiter, ließ mir die Worte auf der Zunge zergehen wie ein kostbares Konfekt. Wolff hatte nicht allein die fehlenden Mittel zur Finanzierung beschafft, sondern auch beschlossen, die Expedition selbst zu leiten.“ (MICHAIL, S. 146/147)

Zu Anfang des Buches fand ich es etwas anstrengend, in die Geschichten hineinzukommen. Man muss sich in jedem Kapitel auf neue Personen und Zeiten einlassen und es dauert ein bisschen, bis die Handlung in Gang kommt. Im ersten Drittel des Romans gibt es einige Längen. Später entspinnt sich aber eine komplexe Handlung, die Spannung entwickelt, vor allem als zur äußeren Geschichte der Arterhaltung die inneren Konflikte der Erzählerinnen deutlicher hinzutreten. Es entstehen glaubhafte Charaktere, deren innere Nöte der Leser mitleidet. (Einzig Karin bleibt ein bisschen farblos.)

Maja Lunde auf der Frankfurter Buchmesse 2019
Die Rahmenhandlung wurde von der Autorin gut recherchiert und basiert auf realen Geschehnissen. Sie zeigt die Zweischneidigkeit der Arterhaltung auf. Allen Beteiligten geht es um die Erhaltung faszinierender Tiere. Dennoch wollen die Zoologen des 19. Jahrhunderts die Tiere auch für den Profit ausbeuten, sie verkaufen, Einnahmen in Zoos erwirtschaften, und nehmen dazu in Kauf, dass beim Einfangen, Halten in Gefangenschaft und Transport der Tiere über tausende Kilometer viele von ihnen sterben. Als Hamburgerin hat mir besonders gefallen, dass die von Carl Hagenbeck organisierten „Völkerschauen“ thematisiert wurden, bei denen mit den exotischen Tiere auch indigene Menschen mitgebracht und für Geld zur Schau gestellt wurden.

Wie schon in „Die Geschichte des Wassers“ bin ich nicht ganz einverstanden mit dem Entwurf der Dystopie von Maja Lunde. Sie beschreibt eine Welt nach dem Klimakollaps, die einer archaischen Welt gleicht. Die Menschen leben vom dem, was sie in ihren Gärten anbauen oder den Fischen, die sie fangen. Sämtliche Errungenschaften der Zivilisation funktionieren nicht mehr, da es keinen Strom, keine Medikamente und Fortbewegungsmittel mehr gibt. Menschen leben weitgehend wie im vorindustriellen Zeitalter und isoliert voneinander ohne organisierte Gemeinschaften. Das kann ich nicht ganz nachvollziehen. Wenn das Klima und die Umwelt erst derart ruiniert sind, sehe ich keinen Grund, warum Menschen nicht weiter Atomkraftwerke betreiben würden, um Strom zu haben, das Internet am Laufen zu halten, die vorhandenen Satelliten zu nutzen etc. Maja Lunde geht von einem Weltkrieg nach dem Klimakollaps aus, der diese Infrastruktur zerstört. Der Zustand gleicht dem nach dem 2. Weltkrieg. Ich stelle mir das wahrscheinliche Szenario deutlich anders vor. Lässt man sich aber auf die von der Autorin dargestellte Situation ein, ist sie in sich stimmig.

Ich bin ein Fan von Lundes „Die Geschichte der Bienen“, war dann aber von „Die Geschichte des Wassers“ enttäuscht. Der dritte Teil des Klimaquartetts ist wieder deutlich besser und lebendiger gelungen. Trotz der Dystopie empfinde ich diesen Roman insgesamt als nicht ganz so düster und deprimierend wie den zweiten Teil.

Ein komplexer, spannender Roman, der mit „Die Geschichte der Bienen“ mithalten kann. Man braucht etwas Durchhaltevermögen beim Lesen, wird dafür aber belohnt.

Die Letzten ihrer Art, Maja Lunde, aus dem Norwegischen von Ursel Allenstein, btb Verlag, Random House Gruppe, München 2019, 640 Seiten, 22,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

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