„Sie macht keine Mühe, am liebsten steht sie und schaut.“ (S.
5) So sagt die Mutter zur Nachbarin, wenn diese sich um die kleine Olga kümmern
soll. Aber schon bald sterben die Eltern und Olga wächst bei der Großmutter in
einem kleinen Dorf auf. Doch die Großmutter ist eher gleichgültig, mit ihr wird
Olga nicht warm. Was Olga wirklich Freude macht, ist Lesen und Lernen. Sie erbettelt
sich Bücher, wo sie kann. Und dann ist da noch Herbert. Mit ihm und seiner
Schwester Victoria freundet Olga sich an. Bis etwas mehr entsteht zwischen Olga
und Herbert.
Herbert wird Olgas Begleiter für den Rest ihres Lebens. Aber nicht als ihr Mann. Er ist der Sohn eines Gutsbesitzers, Olga nur ein ärmliches Mädchen. Außerdem ist Herbert nur selten zuhause. Es treibt ihn über Monate, manchmal Jahre in die Welt hinaus. Er bereist unwirtliche Länder, dient in der deutschen Kolonie in Südwest Afrika. Er will die Arktis erforschen. Und so begegnen sich die beiden über lange Zeitabschnitte in Briefen.
Selbst als Herbert längst gestorben ist, hört Olga nicht auf mit ihm zu sprechen. Er bleibt ihr Bezugspunkt bis zum Schluss. Olga ist eine warmherzige Frau, die durchaus mit anderen Menschen guten Kontakt hat und Kinder liebt. Sie verdient ihren Lebensunterhalt selbst und macht das Beste aus ihrem Leben. Was genau verbindet sie über so lange Zeit mit Herbert? Warum sieht sie sich nicht nach einem anderen Mann um, einem realen Partner?
Im ersten Abschnitt des Romans berichtet ein Erzähler aus Olgas Leben, verbindet es mit der deutschen Geschichte. Sie macht sich Gedanken um den Mord an den Herero in der deutschen Kolonie, es kommt der 1. Weltkrieg, dann der zweite, der Wiederaufbau. Was Olga nicht in den Kopf will ist, warum die deutschen Männer alle immer so groß denken. Das Reich soll immer größer werden, andere Völker beherrscht und neuer Lebensraum erschlossen werden. Ist das nicht Größenwahn? Muss das nicht schief gehen?
„Als Olga anreiste, lag die Großmutter schon in der Kirche im Sarg. (…) Sie saß vom Einbruch der Dunkelheit bis zum Morgengrauen bei der Frau, die sie aufgenommen und aufgezogen, aber keinen Gefallen an ihr gefunden hatte. Sie trauerte nicht um das, was zwischen ihrer Großmutter und ihr gewesen und nun vorbei war, sondern um das, was nicht gewesen war. Sie trauerte auch um die nicht gelebten Leben der gefallenen jungen Männer und um das Leben, das Herbert und sie nie haben würden. Zum ersten Mal war alles wirklich: der Verlust, der Abschied, der Schmerz, die Trauer. Sie begann zu weinen und konnte nicht mehr aufhören.“ (S. 102)
Im 2. Abschnitt des Buches berichtet uns Ferdinand von
seiner Freundschaft mit Olga. Nachdem sie ihren Beruf aufgeben musste, arbeitet
sie als Näherin für Ferdinands Familie und nimmt sich des kleinen Jungen an. Es
entsteht eine lebenslange Freundschaft.
Erst im 3. Abschnitt kommt Ferdinand dahinter, was in Olgas
Leben noch alles passiert ist. Nach Olgas Tod kommt er an Informationen, über
die Olga mit ihm nie gesprochen hat. Nachdem wir die Umrisse ihres Lebens schon
gesehen haben, wird es zum Schluss mit ganz neuen Perspektiven gefüllt.
Schlink erzählt wunderschön, vielleicht mit kleinen Längen
im Mittelteil, und stellt wichtige Fragen. Aspekte der deutschen Geschichte, die mir deutlich weniger
präsent waren als die Nazizeit, werden beleuchtet. Interessant ist z.B. Deutschlands
Rolle als Kolonialmacht. Auch wird die Frage gestellt, ob nach 1945 wirklich
alles anders geworden ist, die deutschen Größenphantasien beendet waren. Olga
ist eine erfrischend geradlinige Person, die das Leben nimmt, wie es kommt.
Ein deutsches Leben, gesehen durch die Augen einer couragierten Frau, über den Zeitraum von 90 Jahren. Sehr lesenswert.
Ein deutsches Leben, gesehen durch die Augen einer couragierten Frau, über den Zeitraum von 90 Jahren. Sehr lesenswert.
Olga, Bernhard Schlink, Diogenes Verlag, Zürich 2019, 320
Seiten, 13,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)
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