Erzählt wird die Geschichte von Francie, einem sensiblen elfjährigen
Mädchen, das eine große Beobachtungsgabe hat. Sie lebt mit ihrem Vater, der ein
singender Kellner ist, ihrer Mutter, die als Hausmeisterin und Putzfrau
arbeitet, und ihrem jüngeren Bruder Neeley in den typischen Brooklyner
Mietshäusern mit Feuertreppe. Francie ist fasziniert, als sie in der Schule
lesen lernt. Sie nimmt sich vor, ab sofort jeden Tag ein Buch zu lesen. Die Bücher
leiht sie in der öffentlichen Bibliothek aus und liest sie in alphabetischer
Reihenfolge, wie sie eben dort stehen.
„Eine ganze Weile lang hatte Francie einzelne Buchstaben gesprochen und dann die Laute zu einem Wort verbunden. Eines Tages aber schaute sie auf eine Seite, und sofort hatte das Wort „Maus“ eine Bedeutung. Sie betrachtete das Wort, worauf ihr das Bild einer grauen Maus durch den Kopf lief. Sie schaute weiter, und als sie das Wort „Pferd“ sah, hörte sie, wie es mit den Hufen auf der Erde scharrte, und sah die Sonne auf seinem glänzenden Fell schimmern. (…) Sie las schnell ein paar Seiten, und ihr wurde vor Aufregung fast übel. Sie wollte es hinausschreien. Sie konnte lesen! Sie konnte lesen!“ (S. 211)
Das Leben ist hart, oft hungert und friert die Familie. Aber
im Sommer gibt es nichts Schöneres für Francie, als mit ihrem Buch auf der
Feuertreppe zu sitzen, die vom grünen Blätterdach eines Baumes eingehüllt ist.
Das ist wie eine grüne Höhle.
Der Baum im Hof ist ein Sinnbild für Francies karges Leben.
Der Baum wächst aus dem asphaltierten Boden, wo eigentlich gar nichts wachsen
kann. Er wird nicht gegossen oder gedüngt. Einmal wird der Baum sogar
abgeschlagen, aber selbst aus dem Strunk wächst ein neuer Baum empor. Da wo
andere nur Alltagsgrau sehen, sieht das phantasievolle Mädchen kleine Flecken
von Schönheit. In der Leihbücherei gibt es einen Krug, in dem stets frische
Blumen stehen. Niemand außer Francie scheint die Blumen zu beachten, aber ihr
machen sie Freude.
Es dämmert Francie, dass Bildung der einzige Weg ist, aus
dem Teufelskreis der Armut zu entkommen, in dem die Eltern jeden Penny sparen
und von einem Wochenlohn zum nächsten leben müssen. Aber wie bekommt man Bildung,
wenn die Eltern keine haben? Wenn das Geld so knapp ist, dass jede Hand zum
Geldverdienen gebraucht wird?
Schulbildung ist nicht das einzige, aus dem Francie lernt.
Das Leben und ihre Beobachtungsgabe lehren sie auch sehr viel. Während sie
aufwächst, erkennt Francie mehr und mehr das Wesen der Menschen, die sie
umgeben. Warum handelt die Mutter so, ihre Tante anders, wie verhält es sich
zwischen Männern und Frauen, womit kalkulieren die Händler und Geschäftsleute im
Viertel?
Obwohl Armut, Elend und Schicksalsschläge in der Geschichte
beschrieben werden, habe ich den Roman nicht als traurig empfunden, sondern als
ermutigend. Francie geht ihren Weg trotz aller Widerstände. Sie ist ein
liebenswertes, mitfühlendes, aber isoliertes Mädchen mit viel Phantasie. Die
Erzählweise ist langsam und zart. Man hört den Lärm auf dem Kopfsteinpflaster,
riecht Kohlen und Schmutz, sieht die Sonne auf den Blättern des Baumes tanzen –
die damalige Welt in Brooklyn wird sehr lebendig in der Erzählung. Die
Charaktere sind lebhaft gezeichnet, auch in ihrer Veränderung, während wir in
der Rückblende bis vor Francies Geburt zurückblicken und Francies Aufwachsen
bis zur Pubertät miterleben.
Ein
Coming-of-age-Roman der besten Sorte, liebevoll und detailreich erzählt, zu
Recht ein Buch, das Generationen begeistert hat.
Ein Baum wächst in Brooklyn, Betty Smith, aus dem amerikanischen
Englisch von Eike Schönfeld, Insel Verlag, Berlin 2018, 622 Seiten, 12,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher
Erlaubnis des Verlags.)
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