Wir erfahren etwas über Antonias Leben, mit wem sie
aufgewachsen ist, wie sie Fotografin geworden ist und welche Rolle die korsische
Untergrundbewegung FLNC in ihrer Umgebung gespielt hat. Antonia hat als
Bildjournalistin von mehreren Kriegen, Katastrophen und Kämpfen berichtet, auch
vom Krieg in Jugoslawien, und dort unbeschreibliches gesehen und fotografiert.
Es wird aber auch von anderen Kriegen und dem Kolonialismus
berichtet, die Antonia nicht erlebt haben kann. Andere Fotografen sind Anfang
des 20. Jahrhunderts in den Orient und nach Afrika gereist, getrieben von der
Neugier auf fremde Länder. Sie wollten die wunderbaren Landschaften, den blauen
Himmel und die exotischen Früchte sehen, die sie dort vermuteten. Gefunden
haben sie unfassbare Grausamkeiten, die Menschen einander angetan haben.
So kommt eine religiöse und philosophische Dimension in die
Erzählung. Nach seinem Bilde hat Gott den Menschen erschaffen. Wie kann es dann
sein, dass der Mensch so abstumpfen kann, vor anderen Ebenbildern Gottes so
wenig Ehrfurcht empfinden und sie grausam zerstückeln kann? Wer den Krieg in
Jugoslawien gesehen hat, fragt sich vielleicht, ob es wirklich einen Gott geben
kann. Trägt der Glaube durch solche Zeiten? Oder besteht er aus verlogenen
liturgischen Floskeln, hinter denen sich sogar der Pfarrer verstecken muss?
Der Roman zeichnet ein düsteres Bild des Menschen, der
Konflikte zu Kriegen eskalieren lässt, die sich nicht mehr lösen lassen. In
jedem Krieg scheint der vorherige mitzuschwingen, Verletzungen der Generationen
vorher müssen gesühnt werden, so dass die Gewaltspirale sich über die Jahrzehnte
und Jahrhunderte hochschraubt. Im Tode der jungen Frau Antonia spiegelt sich
das, was sie als die „unentrinnbare Niederlage des Menschen“ (S. 70) empfand, das
notwendige Scheitern des Menschen in diesem irdischen Leben. In jedem Bild
eines lebenden Menschen sieht sie bereits dessen Tod vorgezeichnet.
„Das Foto, das sie faszinierte, es zeigte Lebende, die Mitglieder des Kommandos, unmittelbar nach ihrer Festnahme, in Reih und Glied aufrecht vor einer weißen Wand stehend, (…) Ihr Blick war starr, voller Hochmut und Resignation, vermengt, vielleicht, mit einem Hauch von Stolz oder Herausforderung, ein Blick, so intensiv und ergreifend, dass Antonia ihn nicht ertragen konnte, ohne dass ihr die Tränen kamen. Der Blick der Besiegten angesichts ihres Feindes. Sie erhofften sich nichts, sie bedauerten nichts, sie waren bewundernswürdig in ihrer Niederlage, weitaus mehr, als sie es gewesen wären, wenn die Operation Erfolg gehabt und niemand je ihre Gesichter zu sehen bekommen hätte. Hier lag kein Schwindel vor, keine Inszenierung, sondern schlicht die Macht der Wahrheit.“ (S. 79/80)
Der Roman setzt sich aus Fragmenten zusammen. Die Sprache ist
kompliziert, verschachtelt, liest sich nicht leicht. Auch die Zusammenhänge
sind verschachtelt und sehr komplex. Ich kann nicht ausschließen, dass ich
nicht alle davon erfasst habe, zumal ich weder mit der korsischen noch der Geschichte
des Balkan besonders vertraut bin. Interessant ist, dass hier ein Buch über die
spezielle Sprache von Bildern geschrieben wurde, ohne eine einzige Abbildung zu
benutzen.
In der ersten Hälfte des Buches empfand ich die philosophischen
und religiösen Betrachtungen als etwas überfrachtet, zu abstrakt. Interessant
fand ich aber die Idee, über die der Pfarrer nachsinnt, welche Auswirkung es
gehabt haben könnte, wenn die Kreuzigung Jesu in Fotografien für die Nachwelt festgehalten
worden wäre, so wie wir Gefolterte aus der heutigen Zeit auf Bildern sehen
können.
Menschlich schwer zu ertragen empfinde ich die resignierte
Grundstimmung des Buches, das Hoffnungslose angesichts der menschlichen Natur.
Diese Haltung ist sicher verständlich angesichts der geschilderten Kriegsgreuel.
Dennoch kann sich aus dieser Einstellung heraus nichts zum Guten verändern, so
dass es aus meiner Sicht aller Erfahrung zum Trotz keine Alternative zu
Hoffnung und Mut gibt.
Das Bild des Menschen
– Ebenbild Gottes oder unentrinnbares Scheitern. Schwere Kost, die in mir nachklingt.
Nichts für jeden Geschmack.
Nach seinem Bilde, Jérôme Ferrari, aus dem Französischen von
Christian Ruzicska, Secession Verlag, Zürich 2019, 208 Seiten, 20,00 EUR
(Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung
gestellte Rezensionsexemplar.)
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