Samstag, 21. September 2019

Nach seinem Bilde, Jérôme Ferrari

Antonia ist Fotografin und stammt aus Korsika. Eines Morgens stürzt sie mit ihrem Wagen einen Abhang hinunter. Sie stirbt mit nur 30 Jahren. Warum? Ihr Pate, ein katholischer Priester, hält die Totenmesse für sie. Der Roman führt uns vom Kyrie eleison bis zum Libera me durch die Liturgie dieser Messe. In jedem Abschnitt steigen unterschiedliche Bilder auf. Zum einen ist jedem Abschnitt ein von Antonia gemachtes Foto zugeordnet (dies wird nur beschrieben, nicht abgebildet), zum anderen kommen unterschiedliche Menschen aus Antonias Leben, aber auch aus der Historie zu Wort.


Wir erfahren etwas über Antonias Leben, mit wem sie aufgewachsen ist, wie sie Fotografin geworden ist und welche Rolle die korsische Untergrundbewegung FLNC in ihrer Umgebung gespielt hat. Antonia hat als Bildjournalistin von mehreren Kriegen, Katastrophen und Kämpfen berichtet, auch vom Krieg in Jugoslawien, und dort unbeschreibliches gesehen und fotografiert.

Es wird aber auch von anderen Kriegen und dem Kolonialismus berichtet, die Antonia nicht erlebt haben kann. Andere Fotografen sind Anfang des 20. Jahrhunderts in den Orient und nach Afrika gereist, getrieben von der Neugier auf fremde Länder. Sie wollten die wunderbaren Landschaften, den blauen Himmel und die exotischen Früchte sehen, die sie dort vermuteten. Gefunden haben sie unfassbare Grausamkeiten, die Menschen einander angetan haben.

So kommt eine religiöse und philosophische Dimension in die Erzählung. Nach seinem Bilde hat Gott den Menschen erschaffen. Wie kann es dann sein, dass der Mensch so abstumpfen kann, vor anderen Ebenbildern Gottes so wenig Ehrfurcht empfinden und sie grausam zerstückeln kann? Wer den Krieg in Jugoslawien gesehen hat, fragt sich vielleicht, ob es wirklich einen Gott geben kann. Trägt der Glaube durch solche Zeiten? Oder besteht er aus verlogenen liturgischen Floskeln, hinter denen sich sogar der Pfarrer verstecken muss?

Der Roman zeichnet ein düsteres Bild des Menschen, der Konflikte zu Kriegen eskalieren lässt, die sich nicht mehr lösen lassen. In jedem Krieg scheint der vorherige mitzuschwingen, Verletzungen der Generationen vorher müssen gesühnt werden, so dass die Gewaltspirale sich über die Jahrzehnte und Jahrhunderte hochschraubt. Im Tode der jungen Frau Antonia spiegelt sich das, was sie als die „unentrinnbare Niederlage des Menschen“ (S. 70) empfand, das notwendige Scheitern des Menschen in diesem irdischen Leben. In jedem Bild eines lebenden Menschen sieht sie bereits dessen Tod vorgezeichnet.

„Das Foto, das sie faszinierte, es zeigte Lebende, die Mitglieder des Kommandos, unmittelbar nach ihrer Festnahme, in Reih und Glied aufrecht vor einer weißen Wand stehend, (…) Ihr Blick war starr, voller Hochmut und Resignation, vermengt, vielleicht, mit einem Hauch von Stolz oder Herausforderung, ein Blick, so intensiv und ergreifend, dass Antonia ihn nicht ertragen konnte, ohne dass ihr die Tränen kamen. Der Blick der Besiegten angesichts ihres Feindes. Sie erhofften sich nichts, sie bedauerten nichts, sie waren bewundernswürdig in ihrer Niederlage, weitaus mehr, als sie es gewesen wären, wenn die Operation Erfolg gehabt und niemand je ihre Gesichter zu sehen bekommen hätte. Hier lag kein Schwindel vor, keine Inszenierung, sondern schlicht die Macht der Wahrheit.“ (S. 79/80)

Der Roman setzt sich aus Fragmenten zusammen. Die Sprache ist kompliziert, verschachtelt, liest sich nicht leicht. Auch die Zusammenhänge sind verschachtelt und sehr komplex. Ich kann nicht ausschließen, dass ich nicht alle davon erfasst habe, zumal ich weder mit der korsischen noch der Geschichte des Balkan besonders vertraut bin. Interessant ist, dass hier ein Buch über die spezielle Sprache von Bildern geschrieben wurde, ohne eine einzige Abbildung zu benutzen.

In der ersten Hälfte des Buches empfand ich die philosophischen und religiösen Betrachtungen als etwas überfrachtet, zu abstrakt. Interessant fand ich aber die Idee, über die der Pfarrer nachsinnt, welche Auswirkung es gehabt haben könnte, wenn die Kreuzigung Jesu in Fotografien für die Nachwelt festgehalten worden wäre, so wie wir Gefolterte aus der heutigen Zeit auf Bildern sehen können.

Menschlich schwer zu ertragen empfinde ich die resignierte Grundstimmung des Buches, das Hoffnungslose angesichts der menschlichen Natur. Diese Haltung ist sicher verständlich angesichts der geschilderten Kriegsgreuel. Dennoch kann sich aus dieser Einstellung heraus nichts zum Guten verändern, so dass es aus meiner Sicht aller Erfahrung zum Trotz keine Alternative zu Hoffnung und Mut gibt.

Das Bild des Menschen – Ebenbild Gottes oder unentrinnbares Scheitern. Schwere Kost, die in mir nachklingt. Nichts für jeden Geschmack.

Nach seinem Bilde, Jérôme Ferrari, aus dem Französischen von Christian Ruzicska, Secession Verlag, Zürich 2019, 208 Seiten, 20,00 EUR

(Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

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