Das Wort „Miroloi“ stammt aus dem Griechischen und
bezeichnet ein Totenklagelied. Der Roman gliedert sich in Strophen anstelle von
Kapiteln. Die Geschichte spielt auf einer namenlosen Insel im 20. Jahrhundert
und zeichnet das fiktive Bild einer patriarchalen, archaischen Gesellschaft.
Die Menschen folgen einer polytheistischen Religion, deren Grundlagen in der „Khorabel“
niedergeschrieben sind. Politische Macht wird im einzigen Dorf der Insel durch
einen nur aus Männern bestehenden Ältestenrat ausgeübt. Tradition und
konservative Gesetze beherrschen das Leben, diese werden durch drakonische Strafen
durchgesetzt. Das Fremde wird abgelehnt und draußen gehalten, sowohl fremde
Menschen, als auch neue Erfindungen oder Technologien. Ein namenloses Mädchen
von 16 Jahren, das als Findelkind auf die Insel kam, erzählt ihre Geschichte.
Sie will Zeugnis ablegen von ihrem unaushaltbaren Leben und leistet Widerstand
gegen die Zustände im Dorf.
Die meisten Rezensenten stürzen sich als erstes auf den
Feminismus, der im Roman eine Rolle spielt. Eine junge Frau kämpft für mehr
Rechte in der Gesellschaft, einerseits für sich selbst, andererseits ermutigt sie
auch andere Frauen zum Widerstand. In der fiktiven Gesellschaft ist die Frau
dem Mann zum Gehorsam verpflichtet. Es gibt häusliche Gewalt und sexuellen
Missbrauch, die von Männern insbesondere in der Ehe ohne Konsequenzen begangen
werden können.
In dem Buch einen nur feministischen Roman zu sehen, griffe
aber viel zu kurz. Es werden viele weitere Themen gesellschaftliche Themen angesprochen,
insbesondere Menschenrechte. Die namenslose Erzählerin ist eine stets
angefeindete Außenseiterin im Dorf. Ihr ist die Heirat verboten, sie lebt beim
Bethaus-Vater (einer Art Priester) und man sagt ihr nach, Unglück zu bringen.
Ihre Stellung ist mit der einer „Unberührbaren“ im indischen Kastensystem
vergleichbar. Sie gilt aufgrund der Umstände ihrer Geburt als unrein. Es sind
aber nicht nur ihre Persönlichkeitsrechte, die stark eingeschränkt sind. Frauen
ist es nicht erlaubt, Lesen und Schreiben zu lernen. Dafür ist den Männern
untersagt, zu kochen oder zu singen. Die Geschlechterrollen sind rigide festgelegt.
Es gibt dadurch kaum Individualität. Auch herrscht ein quasi kommunistisches
Produktionssystem, in dem alle für alle arbeiten und alle Güter gleichmäßig
unter allen verteilt werden. Die Gruppe geht dem Individuum vor. Dies erinnert
an manche asiatischen Gesellschaftssysteme. Dennoch gibt es einige, die
gleicher sind als andere, weil sie familiäre oder freundschaftliche
Verbindungen zu den Ältesten haben. Hier kommt Vetternwirtschaft zur Sprache.
Die Nachrichten werden vom Ältestenrat vorgegeben. Es herrscht also Zensur. Radio,
Fernsehen oder Zeitungen gibt es nicht, nicht einmal Strom.
Die Religion wird als Mittel zur Unterdrückung benutzt. Alle
Gesetze werden damit begründet, sie kämen von den Göttern und bedürften daher
keiner Rechtfertigung. Dies betrifft sowohl Männer als auch Frauen. Die
Ältesten und die Mönche schrecken auch nicht davor zurück, den Text der heiligen
„Khorabel“ zu verändern, um die Gesetze nach ihrem Willen umzuformen. Hierbei
spielt die mangelnde Bildung aller Dorfbewohner eine Rolle. Die Frauen können
in der Regel gar nicht lesen, die Männer können es, scheren sich aber nicht
immer um den Text, solange sie nur genug Alkohol haben und nicht zu viel
arbeiten müssen. Die Betschüler (also Mönchsanwärter) wissen um den Betrug,
enttarnen ihn aber nicht.
Insgesamt beschreibt der Roman mangelnde Zivilcourage. Die
Frauen sind mit ihrer Rolle nicht immer einverstanden, tun sich aber nicht
zusammen, um sich zu wehren. Einerseits weil sie durch körperliche Gewalt daran
gehindert werden, andererseits weil sie dem Aberglauben verfallen sind und
meinen, die Erzählerin sei eine Art Hexe, der man nicht trauen könne. Hinzu
kommen persönliche Eifersüchteleien. Auch die Männer fühlen sich nicht wohl in
ihrer Rolle. So ist Homosexualität verboten. Singen und kochen tun sie
heimlich. Außerdem ertränken sie Langeweile und Unzufriedenheit im Alkohol,
anstatt etwas zu ändern. Das geht so weit, dass sie sogar an der Verkrüppelung
und Tötung von Menschen aktiv teilnehmen, obwohl sie diese als falsch erkennen.
Dieser Roman ist wortgewaltig und erzeugt starke Emotionen
durch die ungewöhnlichen und treffenden Formulierungen. „Sofias Stimme ist wie
ein Beil, es durchtrennt das Seil des Andersseins, das mich bis zum Hals
einschnürt Tag für Tag.“ (S. 141)
Die Erzählerin entwickelt sich im Verlauf der Geschichte, im
Sprechen und im Denken. Sie lernt neue Worte sowie Schreiben und Lesen. Wofür
wir keine Worte haben, das können wir nicht benennen, diskutieren, verändern,
dessen Existenz steht sogar in Zweifel. Das krasseste Beispiel ist der Umstand,
dass die Erzählerin keinen eigenen Namen tragen darf. Sie ist „das Mädchen“, „die
Eselshure“ oder „die Missgeburt“. Die Sprache des Romans erinnert mich etwas an
„Die Farbe von Milch“ (vgl. meine Rezension), in dem auch ein junges Mädchen
schreiben und lesen lernt und erst dadurch eine Stimme bekommt. Sie drückt ihre
starken Gefühle in den Kategorien aus, die sie kennt, nämlich durch den
Vergleich mit Naturphänomenen oder Alltagsgegenständen. Sie verliebt sich und
sagt:
„Ich möchte jauchzen, springen, mich zerteilen. Ich möchte zwitschern wie die Schwalben und mich taumelflugs ins Tal stürzen. (…) Möchte stinken wie der Käse, aufgehen wie die Blüte, dampfen wie der Kaffee, leuchten wie die Blume. Ich möchte alles sein, jedes Ding, jede Schuppe, jedes Körnchen, jedes Haar, jede Feder, jede Falte, jedes Horn. (…) Möchte in das kleinste Teil zerfallen, bis es nichts mehr ist. Ich möchte alles sein, wofür ich keine Worte habe. Alles, was die Götter sind und mehr. Alles, alles, was gedacht werden kann.“ (S. 138)
Karen Köhler, Hamburg, 04.09.19 |
Ich konnte vor wenigen Tagen im Rahmen des Longlist-Abends
des Deutschen Buchpreises, für den „Miroloi“ nominiert ist, eine Lesung der
Autorin aus diesem Buch hören. Aus dem Mund von Karen Köhler selbst wurden die
ohnehin starken Worte noch eindringlicher. Ein Feuerwerk!
Der Roman schmerzt, weil er so wahr ist. Weil man die Verzweiflung
spüren kann. Die poetische Ausdrucksweise hat mich in ihren Bann gezogen. Der
Roman macht deutlich, wie viel es braucht, um ein aus westlicher Sicht
lebenswertes und menschenwürdiges Leben in einer funktionierenden Gesellschaft zu
ermöglichen. Wie stark jeder Einzelne mitwirken muss, damit persönliche
Entfaltung, Gleichberechtigung nicht nur von Männern und Frauen, sondern auch
von Menschen verschiedener Herkunft, sozialem Status oder sexueller
Orientierung möglich ist. Wie wichtig Bildung für alle ist, um der Dummheit und
Grausamkeit Einhalt zu gebieten, um einen Rechtsstaat und Pluralität zu gewährleisten.
Nicht zuletzt zeigt die Geschichte, wie sehr Sprache unsere Vorstellung von der
Welt prägt, aber auch wie sehr wir das Eine zum Leben brauchen: das gute Wort,
das ein anderer Mensch zu uns spricht.
Die fiktive Welt von „Miroloi“
ist überzogen und extrem. Aber dennoch ist mehr davon als wir vertragen täglich
um uns. Auch in Deutschland. Der Roman schlägt mit Wucht zu. Und trifft.
Miroloi, Karen Köhler, Carl Hanser Verlag, München 2019, 464
Seiten, 24,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher
Erlaubnis des Verlags.)
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