Der Mensch muss essen. In der wachsenden Stadt New York, in
der im Industriezeitalter an jeder Ecke Arbeiter gesucht werden, nimmt Boris
wechselnde Jobs an, um sich über Wasser zu halten. Der einzige Zweck ist aber,
sich Zeit zum Lesen und Lernen zu verschaffen. Irgendwann begegnet er der
jungen Sarah Mandelbaum, die ebenfalls eine jüdische Immigrantin aus der
Ukraine ist. Sie ist harte Arbeit gewöhnt und hat nie eine nennenswerte Schulbildung
erhalten. Boris bemerkt sofort, wie klug und wissensdurstig Sarah ist und lernt
mit ihr.
Sarah und Boris heiraten. Boris kann nichts anfangen mit
Begriffen wie Liebe und Versorgung, verspricht aber, Sarah etwas viel
wertvolleres zu schenken: Die Möglichkeit sich selbst zu unterhalten, indem sie
mit seiner Unterstützung einen eigenen Beruf lernt. Hier wird deutlich, dass
das einfache Mädchen vom Lande, das bei der Emigration gerade Lesen und
Schreiben konnte, auch so etwas wie ein Genie sein muss. Sarah lernt schnell
dazu.
1898 wird der gemeinsame Sohn William James Sidis, genannt
Billy geboren. Vater Boris hat seine eigenen Theorien über das Lernen
entwickelt, in dem er selbst so erfolgreich ist. Er beschließt diese an seinem
Sohn zu testen und damit zu beweisen, dass jedes Kind mit der richtigen
Förderung ein Genie werden kann. Die vollkommene Erziehung, die Boris selbst
nicht bekommen hat, soll seinen Sohn zum vollkommenen Menschen machen. Am
ersten Tag nach Billys Geburt geht es los.
„Er faltete eine Decke zusammen, legte sie auf den Tisch und bettete Billy darauf. Mit einer zweiten Decke verhängte er das Fenster und sagte mit monotoner Stimme: „Es ist dunkel.“ Er nahm die Decke ab und sagte ebenso monoton: „Es ist hell.“ (…)Als Nächstes kam das Gehör dran. Er stellte sich links neben den Tisch, läutete ein Glöckchen und sagte: “Das Geräusch kommt von links.“ Er wechselte die Seite, läutete wieder und sagte: „Das Geräusch kommt von rechts.“ Er hielt das Glöckchen direkt über den Tisch, läutete und sagte: „Das Geräusch kommt von oben.“ Er krabbelte unter den Tisch, läutete und sagte: „Das Geräusch kommt von unten.“ (S. 160)
Billy lernt in ungeheurem Tempo Sprachen, Mathematik und
Allgemeinbildung. Noch im Kindesalter erhält er seinen High School-Abschluss.
Allerdings zeigt er auch diverse Verhaltensweisen, die ihn unerträglich für
eine Gruppe von Gleichaltrigen werden lassen. Der Schulbesuch ist ihm nicht nur
aufgrund seines überlegenen Wissens unmöglich. Selbst Erwachsene schrecken von
seiner selbstgefälligen und besserwisserischen Art zurück. Die Eltern jedoch
genießen die Bestätigung ihrer Erziehungsmethode und die öffentliche
Aufmerksamkeit, die dem Wunderkind zuteilwird. Doch plötzlich verweigert Billy
sich der schnurgeraden Karriere, die seine Eltern für ihn vorgesehen haben. Der
Roman schildert Williams weiteres Leben bis zu seinem Tod.
Die Geschichte wird spannend erzählt und enthält diverse
unvorhersehbare Wendungen. Alle Genies in dieser Familie sind einigermaßen
schrullig und verhalten sich ungewollt komisch, da sie gesellschaftlichen
Normen keinerlei Bedeutung beimessen. Boris und William machen sich große
Gedanken um die Welt als Ganzes, den Sinn, das Universum und die ideale Gesellschaft.
Diese Gedanken und ihr überlegenes Wissen isolieren sie, voneinander und von
allen anderen Menschen. Den Umgang mit Gefühlen wie Liebe oder Einsamkeit hat
ihnen niemand beigebracht.
Der Roman stellt die Frage, auf welche Fähigkeiten es im
Leben wirklich ankommt. Die Eltern schreiben Billys Lernerfolg allein ihrer
Förderung zu, ziehen aber nie in Betracht, dass Billys Intelligenz auch
genetisch unterstützt sein könnte. Sie können sich nicht vorstellen, dass ein Kind
eine eigene Persönlichkeit haben könnte. Für sie unterliegt er allein ihrer
Formung. So bleibt zum einen die Frage offen, ob die Methode bei jedem Kind die
gleichen Ergebnisse hervorbrächte, und zum anderen, ob diese Ergebnisse
wirklich wünschenswert sind. Hier tauchen wir ein in die bis heute von Psychologie
und Soziologie umstrittene Frage nach dem Zusammenspiel von angeborenen
Faktoren und Prägung des Menschen durch seine Umwelt. Jeder darf am Ende der
Geschichte selbst beurteilen, wer am Leben und an der Welt gescheitert ist und
warum.
Mich hat die Geschichte
sehr berührt und gefesselt. Es ist traurig, dass Hochbegabung oft mit
Einsamkeit einhergeht (wenn auch weniger extrem), weil die Mehrheit die Gedankenwelt
dieser Menschen nicht teilen kann.
Das Genie, Klaus Cäsar Zehrer, Diogenes Verlag, Zürich 2019,
656 Seiten, 14,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher
Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung
gestellte Rezensionsexemplar.)
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