Zu Beginn des Buches wechseln
sich Kapitel über Grass und Reich-Ranicki ab, die im zeitlichen Abstand von
sieben Jahren und im räumlichen Abstand von ca. 220 km geboren wurden, Marcel
Reich 1920 in einem kleinen Ort an der Weichsel in Polen, Grass 1927 in der
freien Stadt Danzig. Ihre Jugendjahre hätten unterschiedlicher nicht sein
können. Der Jude Reich (der sich erst nach dem 2. Weltkrieg Reich-Ranicki
nannte) überlebte die Nazizeit nur durch unglaubliches Glück, zuerst die
Deportation von Berlin nach Polen, dann das Warschauer Getto und nach der
Flucht von dort ein Versteck in einem polnischen Privathaus. Der junge
Grass war begeisterter Nationalsozialist, meldete sich 1944 im Alter von 17
Jahren freiwillig zur Wehrmacht und kämpfte in der Waffen-SS.
1958 begegneten sich Grass
und Reich-Ranicki zum ersten Mal in Polen. Damals arbeitete Grass bereits an
der „Blechtrommel“. Wenig später übersiedelte bzw. floh Reich-Ranicki mit
seiner Frau nach Deutschland. Ab hier behandeln die Kapitel des Buches beide
Protagonisten gemeinsam. Es begann eine Verbindung des Schriftstellers mit dem
Kritiker, die Günter Grass als eine Art Zwangsehe beschrieben hat, die keiner
von beiden lösen konnte. Man schätzte sich gegenseitig und beeinflusste sich,
aber es war kaum ein harmonisches Zusammensein möglich. Eine Art Hass-Liebe entstand.
Beide trafen sich regelmäßig bei der „Gruppe 47“, Reich-Ranicki kritisierte
dort ad hoc Lyrik und Romanpassagen von Grass. Schließlich begann Reich-Ranicki
regelmäßig in den großen Feuilletons zu rezensieren.
Dieses Sachbuch liest sich
spannend und flüssig wie ein Roman. Insbesondere der Lebenslauf von Marcel
Reich-Ranicki ist für sich allein schon beeindruckend, was wir spätestens seit
Veröffentlichung seiner Autobiografie „Mein Leben“ (Deutsche Verlagsanstalt,
Stuttgart 2000) wissen. Anhand der Verknüpfung mit der Geschichte von Günter
Grass wird jedoch ein Lebensthema des Kritikers noch deutlicher: Er war in der
deutschen Literaturwelt stets umgeben von ehemaligen Soldaten der deutschen
Wehrmacht und hatte als Jude stets das Gefühl, nicht ganz dazuzugehören.
Deutlich wird die Kultur des Schweigens oder auch Verschweigens im Nachkriegsdeutschland.
Günter Grass hat bis zur Veröffentlichung seines autobiografischen Buches „Beim
Häuten der Zwiebel“ (Steidl Verlag, 2006) gebraucht, um mit fast 80 Jahren
endlich einzugestehen, dass er der Waffen-SS angehört hatte.
Reich-Ranicki war in den
1960er Jahren fassungslos über das Schweigen der deutschen Literaten zu den
Nürnberger Prozessen. Welche Auswirkungen und Ausmaße das Schweigen hatte, wird
deutlich anhand einer ungeheuren Begebenheit: 1973 waren Marcel Reich-Ranicki und
seine Frau bei dem Verleger Wolf Jobst Siedler eingeladen, um die gerade
veröffentlichte Adolf Hitler-Biografie des Journalisten Joachim Fest zu feiern.
Als sie eintrafen waren sie mehr als erstaunt über die Anwesenheit eines „Ehrengastes“:
Albert Speer, eines verurteilten Kriegsverbrechers. Die Reich-Ranickis sagten
nichts, um einen Eklat zu vermeiden. Später warf der Autor Fest in einem
Interview Marcel Reich-Ranicki seine „ordinäre Phantasie“ vor, mit welcher er
die Begegnung (unrichtig) dargestellt habe.
„Eine Buch-Party zu Ehren eines Buches über Adolf Hitler in Berlin mit einem seiner engsten Mitarbeiter als Ehrengast. Dazu werden die Holocaust-Überlebenden Marcel Reich-Ranicki und seine Frau eingeladen. Ob man sie vorher darüber informiert hat, weiß der Autor des Hitler-Buches nicht mehr. Aber Marcel Reich-Ranicki hat eine ordinäre Phantasie!“ (S. 229)
Die eben zitierte Passage
gehört für mich zu den besten in diesem insgesamt sehr gelungenen Buch aufgrund der deutlichen Positionierung des Autors zu den Geschehnissen. Volker
Weidermann hat gründlich recherchiert, vergleicht die unterschiedlichen Erinnerungen
diverser Zeitzeugen und lässt die Motive und Emotionen der Handelnden
deutlich werden. Er zitiert aus Reich-Ranickis deftigen Kritiken, die es an
Arroganz und Belehrung oft nicht fehlen ließen. Natürlich zitiert er auch
Günter Grass, aus seinen Büchern, aber auch aus den Briefen, die beide einander
geschrieben haben. Weidermann lässt die schillernden Persönlichkeiten der Protagonisten sehr
lebendig werden.
Der lebenslange Kampf zweier Giganten der deutschen Literatur, spannend
wie ein Thriller geschrieben und fundiert aufgearbeitet – sehr empfehlenswert!
Das Duell – Die Geschichte von Günter Grass und Marcel
Reich-Ranicki, Volker Weidermann, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019,
320 Seiten, 22,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher
Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung
gestellte Rezensionsexemplar.)
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