Sonntag, 15. September 2019

Das Duell, Volker Weidermann

Volker Weidermann hat Marcel Reich-Ranicki beerbt als Gastgeber des Literarischen Quartetts. Nun beleuchtet er seinen berühmten Vorgänger in dieser Doppelbiografie, vor allem in seiner Beziehung zu Günter Grass. Anhand des Lebens und Wirkens dieser beiden Giganten der deutschen Literatur erleben wir das 20. Jahrhundert mit seiner wechselvollen Geschichte. Die geschichtlichen Zusammenhänge erschließen erst die beiden Lebensläufe.


Zu Beginn des Buches wechseln sich Kapitel über Grass und Reich-Ranicki ab, die im zeitlichen Abstand von sieben Jahren und im räumlichen Abstand von ca. 220 km geboren wurden, Marcel Reich 1920 in einem kleinen Ort an der Weichsel in Polen, Grass 1927 in der freien Stadt Danzig. Ihre Jugendjahre hätten unterschiedlicher nicht sein können. Der Jude Reich (der sich erst nach dem 2. Weltkrieg Reich-Ranicki nannte) überlebte die Nazizeit nur durch unglaubliches Glück, zuerst die Deportation von Berlin nach Polen, dann das Warschauer Getto und nach der Flucht von dort ein Versteck in einem polnischen Privathaus. Der junge Grass war begeisterter Nationalsozialist, meldete sich 1944 im Alter von 17 Jahren freiwillig zur Wehrmacht und kämpfte in der Waffen-SS.

1958 begegneten sich Grass und Reich-Ranicki zum ersten Mal in Polen. Damals arbeitete Grass bereits an der „Blechtrommel“. Wenig später übersiedelte bzw. floh Reich-Ranicki mit seiner Frau nach Deutschland. Ab hier behandeln die Kapitel des Buches beide Protagonisten gemeinsam. Es begann eine Verbindung des Schriftstellers mit dem Kritiker, die Günter Grass als eine Art Zwangsehe beschrieben hat, die keiner von beiden lösen konnte. Man schätzte sich gegenseitig und beeinflusste sich, aber es war kaum ein harmonisches Zusammensein möglich. Eine Art Hass-Liebe entstand. Beide trafen sich regelmäßig bei der „Gruppe 47“, Reich-Ranicki kritisierte dort ad hoc Lyrik und Romanpassagen von Grass. Schließlich begann Reich-Ranicki regelmäßig in den großen Feuilletons zu rezensieren.

Dieses Sachbuch liest sich spannend und flüssig wie ein Roman. Insbesondere der Lebenslauf von Marcel Reich-Ranicki ist für sich allein schon beeindruckend, was wir spätestens seit Veröffentlichung seiner Autobiografie „Mein Leben“ (Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 2000) wissen. Anhand der Verknüpfung mit der Geschichte von Günter Grass wird jedoch ein Lebensthema des Kritikers noch deutlicher: Er war in der deutschen Literaturwelt stets umgeben von ehemaligen Soldaten der deutschen Wehrmacht und hatte als Jude stets das Gefühl, nicht ganz dazuzugehören. Deutlich wird die Kultur des Schweigens oder auch Verschweigens im Nachkriegsdeutschland. Günter Grass hat bis zur Veröffentlichung seines autobiografischen Buches „Beim Häuten der Zwiebel“ (Steidl Verlag, 2006) gebraucht, um mit fast 80 Jahren endlich einzugestehen, dass er der Waffen-SS angehört hatte.

Reich-Ranicki war in den 1960er Jahren fassungslos über das Schweigen der deutschen Literaten zu den Nürnberger Prozessen. Welche Auswirkungen und Ausmaße das Schweigen hatte, wird deutlich anhand einer ungeheuren Begebenheit: 1973 waren Marcel Reich-Ranicki und seine Frau bei dem Verleger Wolf Jobst Siedler eingeladen, um die gerade veröffentlichte Adolf Hitler-Biografie des Journalisten Joachim Fest zu feiern. Als sie eintrafen waren sie mehr als erstaunt über die Anwesenheit eines „Ehrengastes“: Albert Speer, eines verurteilten Kriegsverbrechers. Die Reich-Ranickis sagten nichts, um einen Eklat zu vermeiden. Später warf der Autor Fest in einem Interview Marcel Reich-Ranicki seine „ordinäre Phantasie“ vor, mit welcher er die Begegnung (unrichtig) dargestellt habe.

„Eine Buch-Party zu Ehren eines Buches über Adolf Hitler in Berlin mit einem seiner engsten Mitarbeiter als Ehrengast. Dazu werden die Holocaust-Überlebenden Marcel Reich-Ranicki und seine Frau eingeladen. Ob man sie vorher darüber informiert hat, weiß der Autor des Hitler-Buches nicht mehr. Aber Marcel Reich-Ranicki hat eine ordinäre Phantasie!“ (S. 229)

Die eben zitierte Passage gehört für mich zu den besten in diesem insgesamt sehr gelungenen Buch aufgrund der deutlichen Positionierung des Autors zu den Geschehnissen. Volker Weidermann hat gründlich recherchiert, vergleicht die unterschiedlichen Erinnerungen diverser Zeitzeugen und lässt die Motive und Emotionen der Handelnden deutlich werden. Er zitiert aus Reich-Ranickis deftigen Kritiken, die es an Arroganz und Belehrung oft nicht fehlen ließen. Natürlich zitiert er auch Günter Grass, aus seinen Büchern, aber auch aus den Briefen, die beide einander geschrieben haben. Weidermann lässt die schillernden Persönlichkeiten der Protagonisten sehr lebendig werden.

Der lebenslange Kampf zweier Giganten der deutschen Literatur, spannend wie ein Thriller geschrieben und fundiert aufgearbeitet – sehr empfehlenswert!

Das Duell – Die Geschichte von Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki, Volker Weidermann, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019, 320 Seiten, 22,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Alles überstanden?, Christian Drosten, Georg Mascolo

Die Corona-Pandemie hat uns alle geprägt, bewegt, zur Verzweiflung gebracht. Mich hat der Podcast von Christian Drosten durch die Pandemie...