Mittwoch, 7. August 2019

Gullivers Reisen - Nacherzählt von Doron Rabinovici, Jonathan Swift

„Gullivers Reisen“ ist ein Klassiker, dessen Geschichte ich aus Filmen kannte. Gelesen habe ich das Original aber nie. Nun fand ich diese schöne Hardcover Ausgabe vom Insel Verlag mit schönen Illustrationen. Es handelt sich nicht um eine Übersetzung des erstmals 1726 erschienenen Textes von Jonathan Swift, sondern um eine Nacherzählung von Doron Rabinovici.

Viele Leute meinen, „Gullivers Reisen“ sei ein Kinderbuch. Das bezieht sich wohl auf den bekanntesten ersten Teil der Erzählung, in dem Gulliver in Liliput landet, wo er winzig kleinen Menschen und Städten begegnet. Tatsächlich ist das Werk als Satire auf damalige gesellschaftliche Missstände für Erwachsene geschrieben worden und umfasst vier Teile. Jonathan Swift ahmte dabei die damals verbreitete Literaturgattung des Reiseberichts nach, der Seemannserzählung, die nicht nur Fakten, sondern auch Seemannsgarn enthalten konnte. Der Text wird in einem kurzen Nachwort des Nacherzählers historisch eingeordnet. Das fand ich sehr hilfreich.

Die erste Seereise führt Kapitän Gulliver nach Liliput, ein Land, in dem alles kleiner ist als er selbst. Es wird beschrieben, wie die kleinen Bewohner Angst vor dem Riesen Gulliver haben (sie nennen ihn „Menschberg“), ihn fesseln und mit kleinen Pfeilen beschießen. Der Erzähler scheint eine kindische Freude an Fäkalien zu haben, da mehrfach beschrieben wird, zu welchen Peinlichkeiten es führt, als Gulliver seine Notdurft verrichtet und die Menge die ortsüblichen Verhältnisse deutlich übersteigt… Die kleinen Bewohner und ihre Monarchen führen erbitterte Kriege um nichtige Meinungsverschiedenheiten, insbesondere um die Frage, von welcher Seite aus ein gekochtes Ei korrekt zu schälen sei.

Gullivers zweite Reise geht nach Brobdingnag, wo ihm Riesen begegnen. Diese stellen den für sie winzigen Gulliver als Monstrosität aus. Durch die Gunst eines Monarchen entgeht er der weiteren Ausbeutung. Der Monarch und sein Hof bekommen aber auch in dieser Episode ihr Fett weg. Man macht Gulliver zum Sexobjekt, der sich auf blanken Busen und an schlimmeren Orten aufhalten muss.

Ab dem dritten Teil betrat ich mir unbekanntes Terrain. Die Ziele dieser Reise sind unaussprechlich. Gulliver entdeckt ein Volk auf einer fliegenden Insel, die mit derselben die Sonne verdecken können und das Volk auf dem darunter liegenden Land terrorisieren und unterdrücken. Dabei sind sie aber so zerstreut, dass man sie schlagen muss, um das Gespräch am Laufen zu halten. Sie vergessen es ständig.

Im nächsten Land herrscht eine absurde Fortschrittsgläubigkeit, die zum totalen Verfall führt. Man versucht, Sonnenlicht aus Gurken zurück zu gewinnen und aus menschlichem Kot das Essen wieder herzustellen, aus dem dieser ja entstanden sein muss (schon wieder diese absonderliche Fäkalienlust!). Ein anderer verfolgt den Plan, Häuser vom Dach abwärts zu bauen.

Im Land Glubbdubdrib kann man Tote für einen Tag wieder zum Leben erwecken, auch bekannte Persönlichkeiten aus der Vergangenheit. In Luggnagg gibt es unsterbliche Menschen, genannt Struldbrugs. Doch was Gulliver als erstrebenswerter Zustand von Altersweisheit erscheint, entpuppt sich als Leidensschicksal, da geistiger Verfall, Demenz, Vereinsamung und Isolation unausweichlich sind.

Am erstaunlichsten fand ich den vierten Teil, die Reise ins Land der Houyhnhnms (kann man das überhaupt aussprechen?). Dort sind Pferde die intelligentesten Wesen. Menschen leben dort auch, genannt Yahoos, doch sind sie den Pferden untertan und gelten als kaum dressierbar, dumm und triebgesteuert. Es ist Gulliver peinlich, dass man ihn zur gleichen Gattung zählt und nicht versteht, warum er im Gegensatz zu den anderen Yahoos Kleidung trägt.

Im vierten Teil werden das Familienbild und die Staatsform aufs Korn genommen. Die Pferde leben in friedlichen Zweckgemeinschaften zusammen. Heiratspartner werden farblich und vom Körperbau aufeinander abgestimmt. Es geht um Fortpflanzung zur Erhaltung der Art und Vermeidung von Überbevölkerung. Fohlen werden oft nicht von den leiblichen Eltern aufgezogen. Gullivers Berichte aus seinem Heimatland führen dazu, dass man seine Artgenossen als kriegerisch und habsüchtig, kurzum primitiv einschätzt. An Juristen wird kein gutes Haar gelassen.

„Ihr Yahoos“, sagte mein Herr, „begnügt euch nicht mit dem, was die Natur vorgibt. (…) Nein, ihr streicht noch hervor, was in euch angelegt ist. Ihr übertreibt alle Eigenschaften. Du selbst hast es mir ja erzählt.  Die Weibchen bemalen sich, bis sie nicht wiederzuerkennen sind. Ihr verstellt euch, um einander zu gefallen. Ihr gebt vor, eurem wahren Wesen entsprechen zu wollen, indem ihr es übertüncht. Vollkommen unverständlich ist mir, wie anders ihr eure männlichen und weiblichen Kleinen erzieht. Ihr seht nicht das einzelne Kind, sondern nur das Geschlecht. Die Hälfte von euch verroht auf diese Weise, und die andere lässt ihr verkümmern.“ (S. 127)

Es war eine interessante Lektüre, in der insbesondere die Ständegesellschaft des 18. Jahrhunderts in den Blick genommen wird. Die Begebenheiten sind ganz lustig, wenn mich auch die auffallend häufigen Fäkaliengeschichten etwas irritieren. Die Gesellschaftskritik ist etwas antiquiert, wenn auch historisch sehr interessant. Ich bin froh, eine Nacherzählung gewählt zu haben und nicht den Originaltext von Swift, weil die vorliegende Darstellung gerafft und sprachlich etwas modernisiert wurde. Andernfalls wäre das Lesen deutlich anstrengender gewesen. Vor allem die historische Einordnung im Nachwort fand ich gelungen. Sie hat mein Verständnis sehr bereichert.

Ein Klassiker, den ich nicht bereue gelesen zu haben, aber keine reine Spaßlektüre.

Gullivers Reisen, Jonathan Swift, nacherzählt von Doron Rabinovici, illustriert von Flix, Insel Verlag, Berlin 2017, 144 Seiten, 16,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

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