Mary ist nicht dumm, im Gegenteil. Entgegen aller Schläge
und Aufforderungen gehorsam ihre Arbeit zu tun, hat sie ihre eigene Meinung –
und traut sich, diese stets laut zu sagen. Durch ihren Scharfsinn legt sie
dabei den Finger in manche Wunde, die niemand ausgesprochen wünscht. Doch Mary
lässt sich nicht beirren. Sie hat eine Geschichte zu erzählen.
Marys Haar hat die Farbe von Milch. Sie ist die jüngste von
vier Schwestern, die bei einem übellaunigen, herrschsüchtigen Vater und einer
ihm ergebenen Mutter auf einem Bauernhof leben. Harte körperliche Arbeit von
Sonnenauf- bis Sonnenuntergang sind ihr Leben. Die Mädchen sollen arbeiten wie
Männer – selbst schuld, dass sie keine Söhne sind. Das gilt auch für Mary, die
mit einem schlimmen Bein zur Welt gekommen ist. Wegen ihres Handycaps ist sie
am leichtesten zu entbehren, als der örtliche Pfarrer den Vater bittet, eine
seiner Töchter in seinem Haushalt anstellen zu dürfen. Die Frau des Pfarrers
ist schwer krank.
Mary will gar nicht weg aus der ihr bekannten Umgebung des
Bauernhofs, lernt dann aber die völlig andere Welt im Pfarrhaushalt kennen. Da
gibt es also Leute, die mehr als einen Satz Kleidung haben? Die den Tageslauf
mit Uhren messen (die Mary nicht lesen kann), anstatt sich am Sonnenstand zu
orientieren, am Knurren des eigenen Magens oder daran, dass es Zeit ist die
Kühe zu melken. Wie seltsam. Auch dort nimmt Mary kein Blatt vor den Mund und
erklärt ihre einfache und klare Sicht der Dinge.
„Sieht aus als sollte das zurück in die Küche, sagte ich.Danke. Ich hoffe, es wird dir gut gehen bei uns, Mary.Ich werd es überleben.Wie alt bist du?Vierzehn. Fast fünfzehn.Und wann hast du Geburtstag?Im Spätsommer. Mutter war draußen auf dem Feld und es heißt sie hat geschwitzt. Und es war nachdem die Gerste geerntet war.Und daran macht ihr das fest?Eine andere Art gibt es ja nicht. Dann werd ich das Tablett jetzt mal mitnehmen.“ (S. 61/61)
Der Roman beeindruckt durch Marys bestechende Wahrheiten.
Sie sieht die Welt so klar, besonders weil sie keine Bildung genossen hat. Sie
kennt keine Euphemismen. Sie weiß, wie ein Schwein lebt oder eine Kuh und hält
das Menschenleben für nicht viel unterschiedlich. Sie weiß, welche Umstände ihr
keine Wahl lassen und benennt diese auch so. Wo sie aber die Möglichkeit sieht
selbst zu entscheiden, da tut sie es. Sie ist eine bemerkenswerte Frau, an der
die Härte des Landlebens im 19. Jahrhundert und die Unterdrückung der Frauen
deutlich werden. Dennoch verliert sie nie ihre Fröhlichkeit und Tatkraft,
obwohl ihr Schicksal nicht einfach ist. Sie hat eine natürliche menschliche
Wärme und Freundlichkeit, obwohl sie selbst kaum je Freundlichkeit von anderen
erfahren hat.
Ein starker Roman,
der einen zum Schluss zu Tränen rührt, zuvor aber in Ehrfurcht vor dieser
jungen Frau gefangen nimmt. Beeindruckend!
Die Farbe von Milch, Nell Leyshon, aus dem Englischen von Wibke
Kuhn, Wilhelm Heyne Verlag, München 2019, 208 Seiten, 10,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher
Erlaubnis des Verlags.)
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