Buenos Aires – diese Stadt weckt
viele unterschiedliche Assoziationen. Gewachsen aus verschiedensten Einwanderern,
riesig und vielfältig. Die vorliegende Anthologie vereint 19 Kurzgeschichten
und ein Gedicht (von Borges – wem sonst?) verschiedener Autoren aus
verschiedenen Epochen.
Oft vertreten ist die Beschreibung
der Stadt mit ihrem heruntergekommenen Charme, den kaputten Gehsteigplatten,
dem abblätternden Putz und den Armenvierteln, von María Gainza als „Ruinenromantik“
bezeichnet (S. 85). Weiteres Thema ist die verlorene Hoffnung, die Zeiten
könnten wirklich einmal besser werden. Das Chaos, die Rezession, der Mangel,
die Korruption und die Armut, das alles könne die nächste Regierung beseitigen,
daran glauben die porteños (= Einwohner von Buenos Aires) schon lange nicht
mehr. Dies beschreibt u.a. Martin Caparrós in „Die bedrückte Stadt“ (S. 35).
Politische Unterdrückung und der Protest dagegen werden angesprochen, ein
Dauerbrenner in dieser Stadt.
Es begegnen uns die unterschiedlichsten
Menschen in teils skurrilen kleinen Begebenheiten, etwa wenn ein Hund über
Kilometer laut bellend einem Bus hinterher läuft. Warum nur? (César Aira, „Der
Hund“, S. 9) Unglückliche Liebe, die Auserwählte verlässt auf einem Schiff den
Hafen, gibt es natürlich auch (Martín Kohan, „Der Fehler“, S. 52). Die
Leidenschaft dieser besonderen Stadt wird in der folgenden Passage besonders
gut ausgedrückt:
„Hinabgestürzt zwischen die großen würfelförmigen Gebäude, mit Panoramen von Brathähnchen und goldenen Sälen, mit Kokainbuden und Theatervestibülen: Wie wunderbar verkommen ist die Corrientes bei Nacht! Wie schön und wie müßiggängerisch! Mehr als eine Straße scheint sie etwas Lebendiges, ein Wesen, das aus all seinen Poren Herzlichkeit verströmt; Straße unser, die eine Straße, die eine Seele hat, in dieser Stadt, die einzige, die einladend, auf liebenswerte Weise einladend ist wie eine einfache Frau, und deshalb umso schöner.“ (Roberto Arlt, „Corrientes – bei Nacht!“, S. 31)
Insgesamt fällt mir auf, dass viele
der Geschichten kaum Handlung aufweisen, sondern sich in einer langen
Zustandsbeschreibung ergehen. Da laufen Menschen endlos durch die Straßen von
Buenos Aires, erinnern sich an etwas, kommen an Dingen vorbei. Diese Art Geschichten
entsprechen leider nicht meinem Geschmack und so zog sich das Buch an manchen
Stellen etwas in die Länge.
Die Auswahl der Geschichten lässt
mich einige Aspekte von Buenos Aires vermissen. Mich als begeisterte Tanguera hat
erschreckt, dass es in dieser Sammlung (entgegen dem Klappentext) nicht EINE Geschichte
über Tango gibt!! Zwar wird in einer Story ein Tango von Carlos Gardel zitiert,
ums Tanzen geht es dabei aber nicht. Dabei ist Buenos Aires nicht nur die
Heimat, sondern nach wie vor die Welthauptstadt des Tango, dieses traurigen Gedankens,
den man tanzen kann. Das ist eine sehr bedauerliche Lücke! Auch vermisse ich die
fröhliche Seite dieser morbiden Stadt, etwa die Heiterkeit, mit der man dort im
dunklen Lokal singt und feixt, wenn auch im 21. Jahrhundert mal wieder der
Strom ohne ersichtlichen Anlass ausfällt. Aus der Resignation über die
unberechenbare Zukunft erwächst auch die Kunst der porteños, den Augenblick
spontan zu genießen, da man nie weiß, ob es der letzte ist.
Der Band enthält
einige sehr unterhaltsame Geschichten, jedoch habe ich Buenos Aires deutlich
lebenslustiger und temporeicher in Erinnerung.
Buenos Aires – Eine literarische Einladung, Timo Berger (Hrsg.),
diverse Verfasser und Übersetzer, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2019, 144
Seiten, 18,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher
Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung
gestellte Rezensionsexemplar.)
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