Der Debütroman der jungen Belgierin Lize Spit hat es in
sich! Er wurde mir sehr empfohlen, hat mich eingesogen, mitgerissen und
durchgeschüttelt. Sieht man genau hin, so erkennt man, dass die Buchstaben auf
dem Buchcover aus Eis bestehen mit darin eingeschlossenen Blumen. Eiskalt kann
einem bei diesem Roman durchaus werden.
Das Mädchen Eva erzählt uns in
wechselnden Zeitperspektiven von ihrem Leben und ihrer Familie in einem kleinen
flämischen Kaff. Sie hat zwei Geschwister, den älteren Bruder Jolan und die
jüngere Schwester Tesje. Der erste Schock ereilt den Leser, als sie berichtet,
dass ihr älterer Bruder die Hälfte eines Zwillingspaars war. Die
Zwillingsschwester wurde tot geboren. Ansonsten geht der Roman los wie eine normale
Familiengeschichte, unaufgeregt erzählt. Es ist gerade dieser Erzählton, der
einem das Blut in den Adern gefrieren lässt. Denn nach und nach berichtet Eva
von schrecklichen Details ihres Lebens, so als wären sie ganz normal. Denn sie
sind für Eva normal. Es war schon immer so.
Eva ist inzwischen Ende zwanzig und kehrt nach neun Jahren
Abwesenheit in ihr Heimatdorf zurück, nachdem sie nach Brüssel gezogen ist.
Anlass ist eine Gedenkfeier für Jan, der 30 Jahre alt geworden wäre - wenn er
denn noch leben würde. Zu Anfang gibt es nur Andeutungen. Erst zum Schluss des
Romans erfährt der Leser, wie Jan zu Tode gekommen ist und warum. Während Eva
uns den Ablauf dieses Tages der Heimkehr minutiös schildert, gibt es
Rückblenden in den denkwürdigen Sommer 2002, den Sommer nach Jans Tod, in dem
Eva etwa 13 Jahre alt war. Sie berichtet von den „Drei Musketieren“, die aus
ihr selbst und den beiden gleichaltrigen Jungen Pim und Laurens bestanden. Die
Dorfschule war so klein, dass die drei Kinder die einzigen Schüler ihres
Jahrgangs waren und in einer „Zustellklasse“, also im gleichen Klassenraum wie
ein anderer Jahrgang unterrichtet wurden. Das schweißt natürlich zusammen. Aber
im Laufe der Geschichte erfährt der Leser, dass aus Freunden manchmal Feinde
werden können. Das geschah im Sommer 2002.
Eine dritte Erzählebene wird durch weitere Rückblenden
aufgemacht, in denen Eva von ihrer Familie erzählt, von ihrer Kindheit und auch
späteren Erlebnissen mit den Familienmitgliedern. Je weiter die Geschichte
fortschreitet, desto mehr Details lassen den Leser spüren, dass mit dieser
Familie irgendetwas nicht stimmt. Aber was? Erschreckend wird der Alltag einer
dysfunktionalen Familie geschildert, die den drei Kindern keinerlei Schutz
bietet. Jeder der drei Geschwister geht damit anders um, aber bei allen
hinterlässt die Familie schmerzhafte Spuren.
„Wäre vor zwanzig Jahren eine dreißigjährige Version meiner selbst plötzlich aufgetaucht und hätte gesagt: „Ich weiß, was passieren wird, mach, dass du hier wegkommst“, dann hätte ich mich keinen Zentimeter bewegt. Dann wären Tesje und ich einfach sitzen geblieben, nicht, weil wir glücklich waren, sondern weil Dinge erst geschehen müssen, bevor man sie bereuen kann, und auch weil die Tüte Chips Pickles noch nicht leer war.“ (S. 329)
Der Sog dieses Romans entsteht durch Andeutungen und kleine
Details, deren Wichtigkeit man erst viel später begreift. Wir wissen, dass Jan
tot ist. Aber wie ist er gestorben? Wir wissen, dass in Evas Familie etwas Ungeheuerliches
passiert sein muss. Aber was? Auch die drei Freunde sprechen nicht mehr
miteinander. Wie konnte dies geschehen, nachdem sie lange so eng verbunden
schienen? Und was schmilzt nun eigentlich? Es entsteht eine ungeheure Spannung beim
Lesen. Man muss einfach wissen, wie das alles zusammen hängt! Dabei fällt man
spätestens in der zweiten Hälfte des Romans von einer Ohnmacht in die nächste
angesichts der Dinge, die Eva erlebt. Es erfordert Mut, über diese Tabus zu
schreiben, aber auch Mut, sich ihnen beim Lesen zu stellen. Harter Tobak. Ich
kann nur vermuten, dass auch autobiografische Elemente von der Autorin verarbeitet
worden sein müssen. Anders ist die schmerzhaft realistische Schilderung von
Evas Gefühlen und Gedanken kaum zu erklären. Die Erzählung ist so dicht, dass
ich sie körperlich spüren konnte.
Ein literarisches
Meisterwerk, das starker Nerven bedarf. Die Handlung ist tief und organisch
konstruiert, der Erzählstil ist phänomenal!
Und es schmilzt, Lize Spit, aus dem Niederländischen von Helga
van Beuningen, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2018, 512 Seiten, 12,00
EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher
Erlaubnis des Verlags.)
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