Adèle ist Mitte dreißig und lebt mit ihrem Mann und ihrem
dreijährigen Sohn in Paris. Ihr Mann ist Arzt in einem Krankenhaus und verdient
gut, sie selbst ist Journalistin bei einer Zeitung. Nach außen hin führt sie
ein perfektes bürgerliches Leben, das sie um keinen Preis verlieren will. Ihre
Bekannten würden sie als eher schüchtern beschreiben. Daneben aber führt sie ein
Doppelleben, lebt ihr wahres Ich aus, wie sie es empfindet. Sie ist angeödet
von ihrem langweiligen, spießigen Leben. Ihre Ehe war eine Vernunftheirat,
ebenso wie das Kind. Dazugehören und Beachtung finden wollte sie, damit alles
gut wird. Also hat sie wahllosen und brutalen Sex mit Fremden. Es können
äußerlich abstoßende Männer sein, eine schnelle Nummer an einer Hausecke oder
in einer Toilette, Journalisten, die sie zufällig und betrunken bei
Auslandsreportagen kennenlernt oder sogar Bekannte, die auch ihr Mann kennt.
Unbekannt muss es sein, schmierig, wild, animalisch, sie will gezwungen werden.
Danach verliert sie schnell das Interesse an den Männern.
„(…) eingezwängt zwischen ihrer Mutter und dem Mann, die sich schlüpfrige Blicke zuwarfen, empfand Adèle zum ersten Mal diese Mischung aus Angst und Lust, aus Abscheu und sexueller Erregung. (…) Niemals, weder in den Armen der Männer noch bei ihren Spaziergängen auf demselben Boulevard Jahre später, hatte sie je wieder dieses magische Gefühl, das Niedere und das Obszöne, die bourgeoise Perversion und das menschliche Elend so mit der Hand greifen zu können.“ (S. 68)
Im Laufe des Romans erfährt der Leser ein wenig davon, was
zu Adèles Verhalten geführt haben mag. Dies soll hier nicht vorweg genommen
werden. Es wird deutlich, dass Adèle alle möglichen Arten von Suchtverhalten
hat und daraus jeweils den Kick sucht, nur um sich selbst zu spüren, das Alte abzuschütteln,
der Realität zu entfliehen. Sie trinkt zu viel, raucht ständig, lebt am Rande
der Magersucht und ist sexsüchtig. In den Süchten erlebt sie den
Kontrollverlust, den ihr bürgerliches Leben nicht erlaubt. Sie fühlt sich
einsam und scheint sich durch das Verlangen nach sexueller Gewalt selbst
bestrafen zu wollen.
Wer nun meint, Adèle sei damit eine Ausnahmeerscheinung
unter den Frauen, sollte nicht zu schnell urteilen. Denn Adèles Gefühle haben
viele Frauen – sicher auch Männer -, leben diese aber in anderer Form aus. Manche
Menschen ritzen sich, andere nehmen Drogen, um sich zu betäuben, und Süchte
gibt es viele, etwa Spielen, Internet oder Essen. Manche davon sind leichter zu
verbergen als Adèles Sexeskapaden. Die Frage dahinter ist schwer zu
beantworten: Wie lebt man denn echt? Wie kann ich gesellschaftlich akzeptiert
und trotzdem wirklich ich sein? Wie gehe ich mit schlimmen Erfahrungen und
negativen Gefühlen um, ohne mir selbst zu schaden? Adèle und ihr Mann sind sprachlos.
Und so stellt sich die Frage, ob sich je etwas ändern kann.
Ein mitreißendes
Buch, verstörend, das der Gesellschaft und ihren Normen einen Spiegel vorhält.
Der Roman fordert uns auf, Wege aus der Sprachlosigkeit hin zu uns selbst zu
finden.
All das zu verlieren, Leïla Slimani, aus dem Französischen
von Amelie Thoma, Luchterhand Literaturverlag, München 2019, 224 Seiten, 22,00
EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher
Erlaubnis des Verlags.)
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