Bernhard Schlinks Kurzgeschichtensammlung „Liebesfluchten“
hatte mir so gefallen (vgl. meine Rezension), dass ich unbedingt noch mehr
davon lesen wollte. Die vorliegende Sammlung von sieben Geschichten hat mich
indes nicht so mitreißen können. Besonders die Geschichten weiter hinten im
Buch sind aber nicht schlecht.
In „Nachsaison“ geht es um eine Sommerliebe. Man lernt sich
in der Nachsaison kennen, als der Urlaubsort recht leer ist. Aber was wird aus
so einer überwältigenden Liebe, wenn jeder in sein eigenes Leben zurückkehrt?
Kann Bestand haben, was im Urlaub so mühelos war?
„Die Nacht in Baden-Baden“ wird in einer Beziehung zum
Verhängnis. Ein junger Mann verbringt diese nämlich nicht mit seiner Partnerin,
sondern mit einer Freundin. Ist es Betrug, wenn man das Bett mit einer anderen
teilt, unabhängig davon, was im Bett passiert? Wenn man nichts darüber erzählt?
Und was kann man einander noch glauben, wenn die Wahrheit schwer zu glauben
ist?
„Das Haus im Wald“ kauft der liebende Ehemann für seine
Frau, seine Tochter und sich. Denn das Leben in New York wird einfach zu
hektisch, nachdem seine Frau als Schriftstellerin große Erfolge feiert. Dabei
braucht sie doch Ruhe zum Schreiben. Und diese Ruhe scheint auch dem
Familienleben gut zu tun. Aber kann diese Ruhe andauern? Ist sie nur eine
schöne Abwechslung? Was genau macht das Familienleben aus?
„Der Fremde in der Nacht“ begegnet einem Mann in einem
Flugzeug auf einem Interkontinentalflug. Im Dunkel und der Unwirklichkeit des
Fluges spricht es sich leichter, zumal zu einem Fremden. Der Fremde erzählt
eine ungeheuerliche Geschichte. Kann sie wahr sein? Und was hat der Zuhörer
damit zu tun? Mehr als man zunächst ahnt.
Ein Mann weiß, es ist „Der letzte Sommer“. Denn er ist
krank. Seiner Familie hat er nicht so genau erzählt, wie krank er ist. Er will
es selbst auch gar nicht so genau wissen. Er will den Sommer genießen. Ist das
so schwer zu verstehen? Offenbar schon. Denn seine Frau macht eine
erschreckende Entdeckung und alles kommt anders als gedacht.
„Johann Sebastian Bach auf Rügen“ ist so ziemlich das
Einzige, das Vater und Sohn gemeinsam haben. Beide lieben die Musik von Bach
und beide lieben das Meer. Und so nimmt der Sohn den über achtzigjährigen Vater
mit auf eine Reise nach Rügen zu einem Bach-Festival. Der Sohn hofft, es werde
sich die Gelegenheit zum Reden ergeben, zu Nähe. Aber nicht jede Art des Gesprächs
erzeugt Nähe. Will der Vater sich überhaupt öffnen? Kann die Musik dazu
beitragen?
„(…) Wie hast du angefangen zu glauben?“ Das war eine noch heiklere Frage. (…)„Ich … ich habe immer gehofft…“ Er sah ins Leere. Dann schüttelte er langsam den Kopf. „Ihr müsst es selbst erfahren. Wenn ihr es nicht selbst…“„Rede mit mir. Mutter hat einmal erwähnt, dass du als Student eine Bekehrung erlebt hast. Das muss das wichtigste Ereignis in deinem Leben gewesen sein – wie kannst du es deinen Kindern verschweigen? Willst du nicht, dass wir dich kennen?“ (S. 231/232)
Eine ältere Dame stellt eines Tages fest, dass ihre Liebe zu
Kindern und Enkeln erloschen ist. Dennoch nimmt sie eine der Enkelinnen mit auf
„Die Reise nach Süden“. Gar nicht so weit südlich, nur in die Stadt, in der sie
studiert hat. Und in der sie einen jungen Mann geliebt hat. Sie erzählt
zögerlich der Enkelin von diesem Mann. So wie sie sich an die Geschichte
erinnert. Aber ist es eigentlich wahr, wie wir uns erinnern? Und welche Bedeutung
hat diese Erinnerung nach so vielen Jahren noch?
In allen Geschichten geht es um Lügen, vor allem um die
Lügen, die wir uns selbst vormachen. Der Lüge, dass schon alles gut werden
wird. Der Lüge, dass alles nicht so schlimm sei. Der Lüge, dass wir nicht
schuld waren an etwas. Wir flüchten uns in Lügen, um die Liebe und ihre
Enttäuschungen erträglicher zu machen.
Besonders anrührend fand ich die Geschichten „Der letzte
Sommer“, in der es um Abschied geht, die Geschichte „Johann Sebastian Bach auf
Rügen“, in dem die Figur des distanzierten Vaters besonders gelungen ist, und „Die
Reise nach Süden“, in der untersucht wird, was eigentlich der Unterschied
zwischen Liebe, Verantwortung und Pflicht ist, und auf welche Weise sich
Erinnerungen in Lebenslügen verwandeln können. Diese drei Geschichten fand ich
lebensnah, ich kann mir die Menschen vorstellen, denen sie geschehen sind. Die
ersten Geschichten des Buches, insbesondere „Das Haus im Wald“ und „Der Fremde
in der Nacht“ erscheinen mir etwas weit hergeholt, etwas extrem. Es ist aber Geschmackssache,
wieviel Realitätsnähe einem gefällt.
Interessante Menschen
und ihre Lebenslügen, nicht nur zum Wohlfühlen geeignet, denn wer stellt sich
schon gern den eigenen Lügen?
Sommerlügen, Bernhard Schlink, Diogenes Verlag, Zürich 2010,
280 Seiten, 19,90 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher
Erlaubnis des Verlags.)
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