Mittwoch, 5. Juni 2019

Sommerlügen, Bernhard Schlink


Bernhard Schlinks Kurzgeschichtensammlung „Liebesfluchten“ hatte mir so gefallen (vgl. meine Rezension), dass ich unbedingt noch mehr davon lesen wollte. Die vorliegende Sammlung von sieben Geschichten hat mich indes nicht so mitreißen können. Besonders die Geschichten weiter hinten im Buch sind aber nicht schlecht.

In „Nachsaison“ geht es um eine Sommerliebe. Man lernt sich in der Nachsaison kennen, als der Urlaubsort recht leer ist. Aber was wird aus so einer überwältigenden Liebe, wenn jeder in sein eigenes Leben zurückkehrt? Kann Bestand haben, was im Urlaub so mühelos war?

„Die Nacht in Baden-Baden“ wird in einer Beziehung zum Verhängnis. Ein junger Mann verbringt diese nämlich nicht mit seiner Partnerin, sondern mit einer Freundin. Ist es Betrug, wenn man das Bett mit einer anderen teilt, unabhängig davon, was im Bett passiert? Wenn man nichts darüber erzählt? Und was kann man einander noch glauben, wenn die Wahrheit schwer zu glauben ist?

„Das Haus im Wald“ kauft der liebende Ehemann für seine Frau, seine Tochter und sich. Denn das Leben in New York wird einfach zu hektisch, nachdem seine Frau als Schriftstellerin große Erfolge feiert. Dabei braucht sie doch Ruhe zum Schreiben. Und diese Ruhe scheint auch dem Familienleben gut zu tun. Aber kann diese Ruhe andauern? Ist sie nur eine schöne Abwechslung? Was genau macht das Familienleben aus?

„Der Fremde in der Nacht“ begegnet einem Mann in einem Flugzeug auf einem Interkontinentalflug. Im Dunkel und der Unwirklichkeit des Fluges spricht es sich leichter, zumal zu einem Fremden. Der Fremde erzählt eine ungeheuerliche Geschichte. Kann sie wahr sein? Und was hat der Zuhörer damit zu tun? Mehr als man zunächst ahnt.

Ein Mann weiß, es ist „Der letzte Sommer“. Denn er ist krank. Seiner Familie hat er nicht so genau erzählt, wie krank er ist. Er will es selbst auch gar nicht so genau wissen. Er will den Sommer genießen. Ist das so schwer zu verstehen? Offenbar schon. Denn seine Frau macht eine erschreckende Entdeckung und alles kommt anders als gedacht.

„Johann Sebastian Bach auf Rügen“ ist so ziemlich das Einzige, das Vater und Sohn gemeinsam haben. Beide lieben die Musik von Bach und beide lieben das Meer. Und so nimmt der Sohn den über achtzigjährigen Vater mit auf eine Reise nach Rügen zu einem Bach-Festival. Der Sohn hofft, es werde sich die Gelegenheit zum Reden ergeben, zu Nähe. Aber nicht jede Art des Gesprächs erzeugt Nähe. Will der Vater sich überhaupt öffnen? Kann die Musik dazu beitragen?

„(…) Wie hast du angefangen zu glauben?“ Das war eine noch heiklere Frage. (…)
„Ich … ich habe immer gehofft…“ Er sah ins Leere. Dann schüttelte er langsam den Kopf. „Ihr müsst es selbst erfahren. Wenn ihr es nicht selbst…“
„Rede mit mir. Mutter hat einmal erwähnt, dass du als Student eine Bekehrung erlebt hast. Das muss das wichtigste Ereignis in deinem Leben gewesen sein – wie kannst du es deinen Kindern verschweigen? Willst du nicht, dass wir dich kennen?“ (S. 231/232)

Eine ältere Dame stellt eines Tages fest, dass ihre Liebe zu Kindern und Enkeln erloschen ist. Dennoch nimmt sie eine der Enkelinnen mit auf „Die Reise nach Süden“. Gar nicht so weit südlich, nur in die Stadt, in der sie studiert hat. Und in der sie einen jungen Mann geliebt hat. Sie erzählt zögerlich der Enkelin von diesem Mann. So wie sie sich an die Geschichte erinnert. Aber ist es eigentlich wahr, wie wir uns erinnern? Und welche Bedeutung hat diese Erinnerung nach so vielen Jahren noch?

In allen Geschichten geht es um Lügen, vor allem um die Lügen, die wir uns selbst vormachen. Der Lüge, dass schon alles gut werden wird. Der Lüge, dass alles nicht so schlimm sei. Der Lüge, dass wir nicht schuld waren an etwas. Wir flüchten uns in Lügen, um die Liebe und ihre Enttäuschungen erträglicher zu machen.

Besonders anrührend fand ich die Geschichten „Der letzte Sommer“, in der es um Abschied geht, die Geschichte „Johann Sebastian Bach auf Rügen“, in dem die Figur des distanzierten Vaters besonders gelungen ist, und „Die Reise nach Süden“, in der untersucht wird, was eigentlich der Unterschied zwischen Liebe, Verantwortung und Pflicht ist, und auf welche Weise sich Erinnerungen in Lebenslügen verwandeln können. Diese drei Geschichten fand ich lebensnah, ich kann mir die Menschen vorstellen, denen sie geschehen sind. Die ersten Geschichten des Buches, insbesondere „Das Haus im Wald“ und „Der Fremde in der Nacht“ erscheinen mir etwas weit hergeholt, etwas extrem. Es ist aber Geschmackssache, wieviel Realitätsnähe einem gefällt. 

Interessante Menschen und ihre Lebenslügen, nicht nur zum Wohlfühlen geeignet, denn wer stellt sich schon gern den eigenen Lügen?

Sommerlügen, Bernhard Schlink, Diogenes Verlag, Zürich 2010, 280 Seiten, 19,90 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

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