Jeder kennt das Tagebuch der Anne Frank. Aber wusstet Ihr,
dass Anne Frank in ihrem Versteck einen Romanentwurf geschrieben hat? Sie hat
im Jahr 1944 ihr spontan niedergeschriebenes Tagebuch zu einem Briefroman
umgearbeitet, den sie nach dem Krieg unter dem Titel „Das Hinterhaus“
veröffentlichen wollte. Zum ersten Mal erscheint aus Anlass ihres 90.
Geburtstags in diesem Jahr eine Ausgabe, die nur diesen (unfertigen)
Romanentwurf enthält. Das wurde auch Zeit!
Das Nachwort des Romans - geschrieben von Laureen Nussbaum, einer Jugendfreundin von Anne - berichtet über die verschiedenen
Versionen von Anne Franks Tagebuch, von denen ich zuvor noch nie gehört hatte.
Ich habe „das Tagebuch“ als Teenager in den 1980er Jahren gelesen und dachte,
dass es nur ein einziges gäbe. Die von mir gelesene Ausgabe war die von Annes
Vater Otto Frank im Jahr 1947 erstmals in niederländischer Sprache
veröffentlichte und später ins Deutsche übersetzte Version des Textes. Otto
Frank hat in dieser ersten Ausgabe eine Mischung aus dem Originaltext des
Tagebuchs und dem später geschriebenen Romanfragment gebildet. Dieser Umstand
ist wohl erst nach Otto Franks Tod 1980 entdeckt worden, nachdem die
Originalhandschriften dem niederländischen Staatsinstitut für Kriegsdokumentation
übergeben worden waren. Erstmals 1986 wurde eine textkritische Ausgabe auf
Niederländisch veröffentlicht, die alle drei Versionen einander direkt
gegenüberstellt, nämlich das spontan niedergeschriebene Tagebuch als Version A,
das Romanfragment als Version B und den daraus von Otto Frank gemischten Text als
Version C. Das hier besprochene Buch „Liebe Kitty“ enthält nur die Version B in
einer neuen deutschen Übersetzung von Waltraud Hüsmert.
Inhaltlich unterscheidet sich der Roman deutlich vom spontan
niedergeschriebenen Tagebuchtext (Version A). Das Tagebuch hat Anne Frank von
1942 bis 1944 jeweils spontan niedergeschrieben und zwar ausdrücklich nur für
sich selbst. Niemand anders sollte es je lesen. Im März 1944 hörte Anne im Radio,
dass ein niederländischer Minister aus dem Exil seine Landsleute zur
Aufbewahrung von Briefen und Tagebüchern aus der Kriegszeit aufforderte, um
Zeugnis über diese Zeit abzulegen. Es war schon vorher Annes sehnlicher Wunsch
gewesen, nach dem Krieg Journalistin und eine berühmte Schriftstellerin zu
werden. Daher begann sie im März 1944 mit einer literarischen Umarbeitung ihres
Tagebuchs. Bis zur Entdeckung der Familie Frank im August 1944 schrieb sie 215
Seiten und kam mit dem Romantext bis zum März 1944.
Wie im Orginialtagebuch bleibt Anne auch im Roman bei der
Briefform und schreibt ihrer imaginären Freundin Kitty. Ganz deutlich schreibt
sie nun aber für einen potenziellen Leser, der sie nicht kennt, und erhöht
dadurch die Lesbarkeit des Textes erheblich. Sie erklärt ihre Lebensumstände,
stellt ihre Familie vor und erläutert den Tagesablauf im Versteck. Sie fasst
Ereignisse thematisch zusammen und lässt einiges weg, was nicht für die Ohren
Dritter bestimmt ist, etwa die Veränderungen ihres Körpers in der Pubertät oder
die Schwärmerei für Peter, den Sohn der zweiten Familie im Versteck. Anne hatte
sich Decknamen für die versteckten Personen ausgedacht, welche in der zunächst
veröffentlichten Mischversion C auch benutzt werden. Im Romanentwurf werden die
echten Namen der Personen genannt (und sollten wohl bei Veröffentlichung geändert
werden). Die zweite versteckte Familie erinnerte ich als Familie van Dahn.
Tatsächlich hießen sie van Pels. Der zuletzt hinzu gekommene Zahnarzt heißt in
der Mischversion Herr Dussel – ein von Anne bewusst genutzter sprechender Name
des ihr unsympathischen Mannes. Tatsächlich hieß der Zahnarzt Herr Pfeffer.
Anne Frank hat in den mehr als zwei Jahren, die sie im
Hinterhaus versteckt lebte, eine große persönliche Entwicklung durchgemacht. Im
Vergleich zum Originaltext des Tagebuchs beschreibt sie den Einzug ins Versteck
und die Anfangszeit dort in ihrem Roman sehr viel reflektierter. Sie baut
humorvolle Elemente ein, etwa die „Hinterhaus-Versteckregeln“:
Freizeit: entfällt, sofern außer Haus, bis auf Weiteres.Sprachgebrauch: geboten ist, jederzeit leise zu sprechen, erlaubt sind alle Kultursprachen, also kein Deutsch. (S. 61)
Sie nimmt ihren Anteil an den Reibereien mit den anderen
Versteckten kritisch unter die Lupe, vergleicht ihre Lage mit der anderer
Juden, die in Konzentrationslager verschleppt worden waren und überlegt, wie
sie sich angesichts der prekären Lage im Versteck zu verhalten hat, um es für
alle erträglicher zu machen. Das ist erstaunlich, wenn man bedenkt, dass Anne
bei Abfassung des Romans erst knapp 15 Jahre alt war. Auffallend sind auch Annes
gewachsene literarische Fähigkeiten im Ausdruck.
Nun sind wir schon so dicht umschlossen von Gefahr und Finsternis, dass wir bei der verzweifelten Suche nach Errettung aneinanderstoßen. Wir schauen alle nach unten, wo die Menschen gegeneinander kämpfen, wir schauen alle nach oben, wo es ruhig und schön ist, und unterdessen sind wir abgeschnitten durch diese düstere Masse, die uns nicht nach unten und nicht nach oben lässt, sondern vor uns steht wie eine undurchdringliche Mauer, die uns zerschmettern will, aber noch nicht kann. Ich kann nichts anderes tun als rufen und flehen: „Oh Ring, Ring, weite und öffne dich für uns!“ (S. 131)
Ob Originaltext, Roman oder Mischform, eines bleibt in allen
Versionen von Annes Tagebuch erhalten: Annes unglaublicher Lebenswille und
Optimismus. Sie lebt jahrelang in permanenter Todesangst, Nahrungsmangel und
ohne Sonnenlicht, wird ihrer unbeschwerten Kindheit beraubt. Trotz unvermeidlicher
Depressionen bleiben ihr Fröhlichkeit und Lebensmut. Das rührt mich an ihrem
Tagebuch stets am meisten! Zeitzeugen berichten, dass sie diesen Optimismus
selbst im Konzentrationslager in Auschwitz und Bergen-Belsen bis zum Schluss
nicht verloren habe. Was für eine beeindruckende Entwicklung hätte ihr noch
bevorgestanden, wenn sie den Krieg überlegt hätte! Anne hat jedenfalls ihren
Herzenswunsch erfüllt: Sie ist eine berühmte Schriftstellerin geworden. Nicht
nur mit dem Tagebuch eines jungen Mädchens, sondern auch durch diesen literarisch
sehr gelungenen Roman, den sie leider nicht mehr fertig stellen konnte.
Anne Franks Roman ist
herzanrührend und authentisch. Ihre persönliche Entwicklung unter den schlimmen
Lebensumständen ist beeindruckend und lässt mich beschämt auf meine
Alltagsjammerei blicken. Anne, was bist du für eine tolle Frau!
Liebe Kitty, Anne Frank, aus dem Niederländischen von Waltraud
Hüsmert, Secession Verlag für Literatur, Zürich 2019, 208 Seiten, 18,00 EUR
(Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung
gestellte Rezensionsexemplar.)
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