Was geschieht, wenn dein Bruder nach 24 Jahren aus der Haft
entlassen wird und seine alten Freunde wieder trifft? Ach ja, und welche Rolle
spielt es dabei, dass er RAF-Terrorist war und vier Menschen umgebracht hat?
Christiane holt ihren Bruder Jörg aus dem Gefängnis ab und
bringt ihn in ihr Wochenendhaus, in das sie eine Gruppe von Freunden eingeladen
hat. Sie will Jörg nicht gleich mitten ins Leben stoßen, er soll sich erst
einmal geborgen fühlen und Unterstützung bekommen. Ein guter Gedanke, der so
leider nicht aufgeht. Das Leben ist weiter gegangen. Die Freunde von damals, die
als Studenten die linke Revolution unterstützt hatten, leben jetzt ein
bürgerliches Leben, haben Berufe und Familie. Alle haben sich lange nicht
gesehen. Aber die alten Beziehungen und Rollen entfalten sich sofort wieder, neue
Bande werden geknüpft, alte und neue Fragen tauchen auf. Wie steht Jörg heute
zu seinen Taten von damals? Wer hat sein Versteck an die Polizei verraten? Was
will Jörg in Zukunft machen, weiter kämpfen oder neu anfangen? Wie ist das
eigene Leben zu bewerten, wenn man seine Träume nicht verwirklichen und seine
Ziele nicht erreichen konnte?
Aus den ganz persönlichen Fragen entspinnen sich die großen
gesellschaftlichen Fragen. Hat die RAF ihr Ziel erreicht, es anders zu machen
als die Elterngeneration, die zu Mittätern des Naziregimes wurden? Oder ist Gewalt
immer falsch? Ist es vertretbar Terroristen zu begnadigen?
Ein weiterer Handlungsstrang spielt sich fiktiv ab. Da gab
es noch Jan, der sich vor 25 Jahren das Leben genommen hat. Oder hat er dies
nur vorgetäuscht? Eine der Freundinnen, die davon träumt Schriftstellerin zu
werden, spinnt Jans Leben aus, wie es hätte verlaufen können, wenn er im
Untergrund weitergelebt hätte und verbindet es mit den Ereignissen des 11.
September 2001. Gibt es eigentlich einen Unterschied zwischen linkem und
islamistischem Terror? Oder ist es egal, wer die Gewalt ausübt und warum?
„Du hast mich den ganzen Abend angeschaut, als fragtest du dich, ob ich, was ich sage, eigentlich glaube. Oder ob ich bei Trost bin. Glaub mir, ich bin bei Trost und ich glaube, was ich sage. Ich frage mich umgekehrt, ob du und deinesgleichen begreift, was mit der Welt los ist. Du denkst wohl, der 11. September wäre eine verrückte Muslimkiste gewesen. (…) – die Welt braucht manchmal einen Schock, um zu Sinnen zu kommen. Wie die Menschen – mein Vater lebt nach seinem ersten Herzinfarkt endlich so vernünftig, wie er schon immer hätte leben sollen. Bei anderen braucht’s zwei oder drei.“„Manche sterben am Herzinfarkt.“ (S. 61)
Bernhard Schlink hat ein komplexes Beziehungsgeflecht
geschaffen und betrachtet den Terrorismus gekonnt von der ganz persönlichen
Warte. Was macht es mit einem Menschen, wenn er gemordet hat? Und wie gehen
andere damit um? In den drei Tagen des Wochenendes werden Lebenslügen entlarvt,
existenzielle Fragen gestellt und Dinge ausgesprochen, die der Einzelne für die
Wahrheit hält. So werden die Auswirkungen von Terrorismus für den Einzelnen beleuchtet,
ohne dass die gesellschaftliche Tragweite ausgeblendet wird. Der Leser kommt
nicht umhin sich selbst Fragen zu stellen. Wie würde ich mich verhalten, wenn
ein mir nahestehender Mensch gemordet hätte? Wie weit wäre ich selbst gegangen,
um gesellschaftliche Ungerechtigkeit zu bekämpfen?
Die Zeit der RAF scheint lange zurück zu liegen. Jedoch ist
das Buch aktueller denn je, seit sich in Deutschland der rechte Terror gegen
Politiker richtet, gezielt Migranten ermordet werden und rechte Netzwerke sich
bis hinein in die Bundeswehr und andere staatliche Institutionen erstrecken.
Ein gut erzählter,
spannender Roman, der Terrorismus auf persönlicher Ebene erfahrbar und den Leser
nachdenklich macht.
Das Wochenende, Bernhard Schlink, Diogenes Verlag, Zürich
2010, 240 Seiten, 12,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher
Erlaubnis des Verlags.)
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