Elihu Hoopes ist 37 Jahre alt, als er 1965 durch eine
Infektion einen irreversiblen Hirnschaden erleidet. Sein Kurzzeitgedächtnis
kann Informationen maximal 70 Sekunden speichern, neue Langzeiterinnerungen
kann er nicht bilden. Da er sich nur an die Vergangenheit vor der Erkrankung
erinnern und den Begriff einer Zukunft nicht mehr fassen kann, lebt er für den
Rest seines Lebens in einer permanenten Gegenwart. Er weiß nicht, welche
Personen sich ihm vor zwei Minuten vorgestellt haben oder dass er vor einer
Stunde gegessen hat. Er erinnert sich nicht, ein Gebäude schon einmal betreten
zu haben, obwohl er letzte Woche dort war. Und er weiß nicht mehr genau, wer er
ist. Er fühlt nur, dass er einsam und verloren ist, verzweifelt auf andere
angewiesen, denn die wissen alle mehr als er, sogar über seine Person.
Für die Hirnforschung ist Elihu Hoopes ein Geschenk. Der
sehr kooperative, intelligente junge Mann nimmt gern an diversen Tests teil. Die
Erforschung seiner Amnesie wird das große Forschungsprojekt eines Instituts,
das von einem bedeutenden Wissenschaftler geleitet wird. Besonders zugetan ist
diesem Patienten die junge Neuropsychologin Margot Sharpe. Zunächst als
Assistentin, später als Leiterin des Instituts entwickelt sie immer neue Tests,
um dem Sitz des Gedächtnisses und den Geheimnissen des menschlichen Gehirns auf
die Spur zu kommen. Über 30 Jahre wird sie mit Elihu Hoops zusammen arbeiten.
Und sich ihm jedes Mal erneut vorstellen, weil er sie vergessen hat.
Margot Sharpe ist einsam und lebt ganz für die Wissenschaft.
Sie verliebt sich in ihren Probanden. Ist dieser Mann noch zu Liebe fähig?
Erwidert er ihre Zuneigung? Sie hält ihre Gefühle geheim vor Dritten, denn dem
ethischen Kodex der Forschung entspricht es nicht, einem Probanden so nahe zu
kommen. Überhaupt stellt sich die Frage, ob es ethisch vertretbar ist, einen Menschen
so lange zu testen und zu erforschen, obwohl für ihn keine Chance auf Heilung
besteht. Beutet die Wissenschaft Elihu Hoopes aus?
„Kaplan und Margot wechseln einen raschen Blick. Tatsache ist, dass der Amnesiekranke nicht jedes Mal gleich auf den Händedruck reagiert hat. Sein Verhalten hat sich durch den ‚derben Händedruck‘ teilweise verändert, auch wenn er die besonderen Bedingungen dieses Händedrucks vergessen hat.Auf der Damentoilette, zu der sie flieht, sobald sie kann, zittert Margot vor Aufregung über diesen Befund. Eine wichtige Entdeckung! (…) Ein Teil des Gehirns funktioniert wie das Gedächtnis. Das widerspricht den gängigen Annahmen, ist aber so. (…) Sagt zu ihrem Gesicht im Spiegel: ‚Oh, Gott. Was tun wir ihm an. Was tue ich ihm an. Eli! Möge Gott mir verzeihen.‘“ (S. 75/76)
Der Roman geht eindrücklich auf Fragen der Identität und der
Komplexität des menschlichen Gehirns ein. Wer bin ich, wenn ich nicht weiß, wer
ich war? Gibt es andere Formen des Erinnerns, als das, was ich mit Worten
wiedergeben kann? Offenbar gibt es ein emotionales und ein körperliches Gedächtnis.
Welche sichtbaren Emotionen und Reaktionen eines Hirngeschädigten sind echt?
Spielt er vielleicht nur etwas vor, um Erwartungen anderer zu erfüllen, auf die
er angewiesen ist? Fragen der wissenschaftlichen Ethik stellen sich. Es wird
deutlich, dass menschliche Reaktionen der individuellen Interpretation
unterliegen. Sieht ein Wissenschaftler das, was er sehen will?
Vorbild für die Gestalt des Elihu Hoopes ist der Amerikaner
Henry Gustav Molaison (1926-2008), der allerdings nicht durch eine Infektion,
sondern durch eine operative Durchtrennung von Hirnregionen eine Amnesie
erlitt. Ab der 1940er Jahre wurden derartige Operationen bei Epileptikern
durchgeführt, um Krampfanfälle zu vermeiden. Lange vor Erfindung des MRT war die
Kenntnis über die verschiedenen Hirnregionen noch gering, so dass man den angerichteten
Schaden unterschätzte. Der Proband wurde tatsächlich 30 Jahre lang von
Wissenschaftlern getestet, insbesondere durch die Ärztin Brenda Miller, die für
ihre Arbeit diverse Forschungspreise gewann.
Das Thema dieses Romans ist ausgesprochen spannend. Ein
Extremfall wie der des Elihu Hoopes macht erst deutlich, wie sehr wir für die
Identitätsbildung auf Erinnerungen angewiesen sind. Wir basteln uns unsere
Biografie und Geschichte aus Erinnerungen zusammen, die sich offenbar über den
Verlauf des Lebens hinweg stets neu verfestigen müssen, um Sinn zu machen. Eine
subjektive Bewertung aktueller Ereignisse ist uns nur möglich, wenn wir sie in
einen Kontext einsortieren können.
Interessant geschildert ist die Figur der Wissenschaftlerin
Margot Sharpe. Sie ist die erste Frau, die eine nennenswerte Position an einer
Universität in ihrem Fach erlangt. Dafür zahlt sie einen hohen Preis.
Einerseits wird sie von männlichen Kollegen ausgebeutet, andererseits sind ihr
normale Beziehungen zu Männern neben ihrer Arbeit kaum möglich. Ihre intelligente,
scharfsinnige Art schreckt so manchen Mann ab, der eher eine liebe kleine
Hausfrau heiraten möchte. Ihre Einsamkeit ist erschreckend. Mehr und mehr wird
Elihu Hoopes ihr Lebensinhalt, von dem sie so abhängig zu sein scheint wie er
von ihr.
Der Roman hat hier und da ein paar Längen, auch weil sich Situationen
notwendigerweise wiederholen. Das Eingeperrtsein in der Leere des Jetzt, in dem
alles scheinbar zum ersten Mal geschieht, ist ja gerade Teil der Geschichte.
Dennoch ist das Buch sehr lesenswert und macht nachdenklich.
Ständig im Hier und
Jetzt zu sein, ist nicht so erstrebenswert, wie es scheint. Die Tiefe
menschlicher Gefühle und Gedanken bleibt ein Mysterium, dem man in diesem Roman
gut nachspüren kann. Lesenswert!
Der Mann ohne Schatten, Joyce Carol Oates, aus dem Amerikanischen
von Silvia Morawetz, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2018, 381 Seiten, 24,00
EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher
Erlaubnis des Verlags.)
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