Am Samstag, den 6. April 2019 fand das 1. Hamburger Leseclubfestival
statt. Vorbild war ein erfolgreiches, ähnliches Event in den Niederlanden. Die
Idee des Festivals ist, eine Alternative zum Format der Lesung zu bieten.
Zeitgleich fanden 6 Veranstaltungen mit 6 Autoren und Autorinnen statt. Eine
Gruppe von jeweils maximal 20 Teilnehmenden traf sich mit dem Autor, dessen
neues Buch jedem zuvor zugeschickt worden war. Jeder hatte das Buch also zuvor
bereits gelesen, so dass darüber ein Gespräch mit dem Autor geführt werden
konnte. Zum Abschluss wurde eine Abschlussparty an einem zentralen Ort für alle
Gruppen und Autoren angeboten.
Stephan Orth beim Leseclubfestival |
Ich habe an der Veranstaltung mit dem Hamburger Reisejournalisten
Stephan Orth teilgenommen, der sein Buch „Couchsurfing in China“ vorstellte
(vgl. meine Rezension dazu: https://www.buch-lady.de/2019/04/couchsurfing-in-china-stephan-orth.html).
Die Gruppe traf sich im Hamburger Gängeviertel in einem grungigen Fotoatelier. Die
Veranstalter empfingen uns mit einem Kreis aus bunt zusammengewürfelten Stühlen,
Brezeln und Wein in sehr gemütlicher Atmosphäre. Der Kreis der Teilnehmerinnen (tatsächlich
ganz überwiegend Frauen, 3 Männer) war wunderbar bunt gemischt und interessant,
im Alter von Mitte Zwanzig bis Ende Sechzig war alles vertreten, alle sichtlich
lesebegeistert.
Stephan Orth, mit dem ich bereits vor der Veranstaltung ein
paar Worte wechseln konnte, ist ein lockerer, sympathischer Typ von Ende Dreißig,
mit dem alle gleich per du waren. Er hat mittlerweile das dritte Buch der
Couchsurfing-Reihe veröffentlicht und erzählte, dass er vor allem in seiner
Studentenzeit selbst häufig Couchsurfer kostenlos bei sich beherbergt habe und
dies – wenn möglich – immer noch gelegentlich tue. Charmant moderiert wurde der
Abend von Daniel Beskos vom Hamburger mairisch Verlag.
Nach einer kurzen Vorstellungsrunde begann der Abend mit
einem Quiz zu Stephans Orths Buch. Wieviele Details erinnert man noch von einem
Buch, das man gerade erst gelesen hat? Wieviele Kilometer hat der Autor auf
seiner Reise nach China insgesamt zurückgelegt? Wie heißen die Privattaxis in
China? Als Anreiz winkten Glückskekse und Schnäpse als Preise, das lockerte die
Stimmung. Dann ging es los mit dem Herzstück des Abends, bei dem jede Stephan
Orth Fragen stellen und man miteinander diskutieren konnte.
Zunächst stand die Frage im Mittelpunkt, „Wie hast du das
bloß gemacht?!“ Wie bekommt man in einem Überwachungsstaat wie China ein Visum,
bricht alle Regeln des „angemeldeten Aufenthalts“ und wird trotzdem nicht von
den Behörden aus dem Verkehr gezogen? Die Antwort: nicht negativ auffallen,
schon gar nicht als Journalist. Die Notizen lieber ins Handy tippen statt mit
Block und Stift gesehen zu werden, Leuten öffentlich keine Mikros unter die Nase
halten, um O-Töne aufzunehmen, keine riesigen Filmkameras benutzen. Stephan Orth
hat seine Fotos mit dem Handy aufgenommen, wunderschön sind sie trotzdem
geworden.
Das Projekt war dennoch mit Risiken verbunden, berichtet
Stephan Orth, denn er musste bereits vier Monate Recherchearbeit über China und
viele Emailanfragen an potenzielle Gastgeber (20% Erfolgsquote) investieren, um
die Reise zu planen, bevor er wusste, ob er das gewünschte Dreimonatsvisum
überhaupt erhalten würde. Er macht sich allerdings keine Illusionen darüber,
dass er nach Erscheinen des Buches wohl kaum noch eine Chance auf eine Wiedereinreise
nach China haben wird.
Bestürzt und überrascht berichtete Stephan Orth darüber, wie
gut die chinesische Staatspropaganda nebst Zensur offensichtlich funktioniere. Den
Menschen werde ein sehr positives Bild ihres Landes in den gleichgeschalteten Medien
vermittelt. Proteste und Demonstrationen würden zum lokalen Phänomen erklärt,
da durch die Zensur nur die unmittelbar Anwesenden davon erführen, nicht aber
der Rest der Bevölkerung, die sich evtl. über dasselbe empört. Die Organisation
einer überregionalen Opposition sei so kaum noch möglich. Auch sähen die
Chinesen das System der staatlichen Überwachung eher unkritisch. Während der Europäer
an Schreckensszenarien à la George Orwell oder Stasi denke, säße den Chinesen
ein tiefgreifendes Misstrauen gegenüber ihren Mitmenschen aus der Zeit der Kulturrevolution
in den Knochen. Weil damals das Denunziantentum weit verbreitet war, empfänden
die Menschen es als einen Fortschritt, dass es nun eine faire Beobachtung aller
gäbe, mit der die wirklich Schuldigen, z.B. Terroristen und andere Straftäter
zur Strecke gebracht werden könnten.
Überhaupt sei es frappierend, so Stephan Orth, dass man sich
der Logik der chinesischen Argumentation aus deren Sicht nicht ganz entziehen
könne. Sie sei nachvollziehbar vor dem Hintergrund der chinesischen
Erfahrungen, auch wenn sie aus unserer Sicht von der Propaganda verzerrt sei.
So wird den Chinesen berichtet, dass chinesische Touristen in Europa überfallen
worden seien, ohne dass die Täter je gefasst wurden. Oder dass in einem Land wie
Deutschland, das ständig gegenüber China als Advokat für die Meinungsfreiheit
eintrete, Chinesen mit Bußgeldern belegt worden seien, weil sie sich öffentlich
mit erhobenem rechtem Arm fotografiert hätten. Daher hielten viele Chinesen
europäische Staaten für gefährliche Reiseländer. Was will man dazu sagen? Auch
scheint den meisten Chinesen nicht bewusst zu sein, wie viele anderslautende
Informationen ihnen durch die Zensur vorenthalten werden, so dass sie gar nicht
den Wunsch verspürten andere Medien nutzen zu können.
Alle Anwesenden einschließlich des Autors zeigten sich
beeindruckt von dem rasanten Wandel, der sich in der chinesischen Gesellschaft in
den letzten Jahren vollzogen hat. Stephan Orth beschrieb einen deutlichen
Unterschied zwischen den Generationen in China. Es seien eher die Jüngeren, die
die Älteren erzögen, nicht umgekehrt. Wer die Kulturrevolution nicht mehr
selbst erlebt habe, blicke ganz anders in die Welt, benutze moderne Technik und
habe andere Vorstellungen vom sozialen Umgang miteinander (Rücksicht und gute
Manieren, auch außerhalb der Familie), und habe ein anderes Verhältnis zur
Umwelt und natürlichen Ressourcen (Tiere nicht nur als Nutzgegenstände, sondern
als geliebte Haustiere).
Zwei Stunden sind wie im Fluge vergangen. Allen hat diese
Art des entspannten Literaturgesprächs sichtlich gefallen. Im Gegensatz zur
Lesung konnte man hier nicht nur zuhören und einem Interview lauschen, sondern
selbst mit dem Autor ins Gespräch kommen, selbst mitmachen. Dazu war die
Gruppengröße von 20 Personen genau richtig, da konnte jeder mitsprechen. Das hat
mich sehr angesprochen. Die Organisation war vorbildlich. Mir gefiel die Idee des
Rundum-sorglos-Pakets. In einer Buchung und zum Preis von 25 EUR war alles
enthalten, der Eintritt zum Autorengespräch und zur Abschlussparty, Getränke
und Snacks während der Diskussion sowie das Buch selbst, das per Post nach
Hause geliefert wurde. Toll! Die einzige Kritik am Format des Lesclubfestivals
war, dass alle teilnehmenden Autoren und Bücher so interessant gewesen wären,
dass es schade war, sich für nur eins davon entscheiden zu müssen.
Die weiteren, zeitgleich stattfindenden Veranstaltungen des
ausverkauften Festivals drehten sich um:
Sophie Passmann, Alte weiße Männer
Isabelle Lehn, Frühlingserwachen
Jochen Schmidt, Ein Auftrag für Otto Kwant
Feridun Zaimoglu, Die Geschichte der Frau
Marie-Alice Schultz, Mikadowälder
Die Teilnehmerinnen meiner Gruppe waren sich einig: So ein
Festival muss es unbedingt bald nochmal geben!
Wer mehr über Stephan Orth erfahren oder eine seiner Lesungen
besuchen möchte, findet Infos dazu auf seiner Website http://www.stephan-orth.de/.
Infos zum Lesefestival gibt’s unter www.leseclubfestival.de.
Ich danke Stephan Orth und den Veranstaltern für die freundliche Erlaubnis zur Veröffentlichung der Fotos und die wunderbare Veranstaltung.
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