Nachdem ich letztes Jahr Melandris Bestseller „Alle, außer
mir“ mit Begeisterung gelesen hatte, wollte ich unbedingt mehr von dieser
Autorin kennenlernen. „Eva schläft“ ist der erste Band ihrer sog. „Trilogie der
Väter“, dreier Romane, in denen Väter eine große Rolle spielen, die aber unabhängig voneinander zu lesen sind. „Alle, außer
mir“ (unbedingt lesen!) bildet den dritten Teil.
„Eva schläft“ zeichnet die wechselvolle Geschichte der
Region Süd-Tirol ab dem Ende des Ersten Weltkriegs bis heuten nach. 1919 wurde
die bis dahin zu Österreich gehörende Region Italien zugeschlagen, obwohl dort
in der Mehrzahl deutschsprachige Menschen wohnten. Im Roman werden die Versuche
verschiedener italienischer Regierungen geschildert, die Region zu zwangsitalienisieren,
die deutsche Sprache und das Brauchtum zu verbieten, die Bevölkerung zu drangsalieren
und schließlich die Lösung in einer von der Bevölkerung geforderten Teilautonomie
der Region zu suchen.
Diese interessante Historie der deutschsprachigen Minderheit
in Italien wird sehr spannend verpackt in eine Familiengeschichte. Eva ist
Anfang Vierzig. Sie hat im Leben nie einen Vater gehabt. Unehelich geboren und
vom leiblichen Erzeuger nicht anerkannt wächst sie bei Verwandten auf. Ihre
Mutter Gerda muss weit entfernt arbeiten. Allerdings gab es für einige Zeit den
Partner ihrer Mutter, Vito, der die Vaterstelle liebevoll vertreten hatte. Eva
hat diesen aus den Augen verloren, erhält aber überraschend einen Anruf von
ihm, da dieser im Sterben liegt und sie noch einmal sehen möchte. Voller
gemischter Gefühle macht Eva sich auf eine lange Zugfahrt durch ganz Italien,
um Vito zu besuchen. Abwechselnd schildert Eva ihre jetzige Situation und in
der Rückblende die Geschichte der Herkunft ihrer Mutter Gerda in Süd-Tirol. Die
gesellschaftlichen Umstände der Zeit des Faschismus in Italien, der Zeit nach
dem Zweiten Weltkrieg und der Terroranschläge in den 1970er Jahren werden
plastisch.
Die Geschichte ist vielschichtig und abwechslungsreich, sie
entwickelt Sogwirkung durch die sehr gekonnte Erzählweise der Autorin. Die Konsequenzen
der politischen Fragen kommen dem Leser ganz nahe durch das persönliche
Schicksal der einzelnen Personen. Werden die Süd-Tiroler Erfolg haben mit ihren
Forderungen nach Gleichbehandlung, nach ihrer hergebrachten Sprache? Sollten
deutsch- und italienischsprachige Bevölkerung getrennt werden, in getrennten
Schulen unterrichtet werden und einander möglichst nicht heiraten, um die Süd-Tiroler
Identität erhalten zu können? Was macht der Befreiungskampf mit den Familien,
die ihn kämpfen? Und wie spielen die moralischen Vorstellungen der Zeit zur
Mitte des vorigen Jahrhunderts hinein, mit ihrer Ablehnung von Sexualität
außerhalb der Ehe, von Homosexualität und der mangelnden Durchsetzung von Arbeitnehmer-
und Frauenrechten?
„Ich habe keinen Vater bekommen, weder als ich zur Welt kam, noch danach mit Vito. Ich habe keinen Ehemann und keine Kinder bekommen. Ich habe weder Brüder noch Schwestern bekommen, mit denen ich das anstrengende Los hätte teilen können, Tochter dieser Mutter zu sein. (…) Mein ganzes Leben lang werfe ich schon mit aus Flicken zusammengesetzten Bällen auf Blechdosen, ohne sie jemals zu treffen. Und jetzt habe ich das Gefühl, dass mir so langsam die Bälle ausgehen.“ (S. 408)
Francesca Melandri ist ein wohl recherchiertes Meisterwerk gelungen.
Eva ist eine Frau des 21. Jahrhunderts, die sich mit ihrer Identität als Italienerin,
Tirolerin, als Frau und als Tochter auseinandersetzt. Viele Frauen dieser Tage
werden sich mit Eva identifizieren können. Sie macht es sich nicht leicht und
urteilt nicht vorschnell über die Elterngeneration. Es ist die Geschichte einer
Frau mitten im heutigen Europa, in dem Landesgrenzen durch freien Grenzverkehr verwischen,
die Zugehörigkeit zu Volksgruppen für einige wichtiger wird, die nach
Unabhängigkeit streben, für andere aber zu Gunsten des Gefühls des „Europäischseins“
an Gewicht verliert.
Diese feinsinnig
verwebte Geschichte ist ein Lesegenuss, der Familiengeschichte und
Weltgeschichte unglaublich spannend vereint. Sehr empfehlenswert!
Eva schläft, Francesca Melandri, aus dem Italienischen von Bruno
Genzler, Verlag Klaus Wagenbach Berlin 2018, 448 Seiten, 15,90 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher
Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung
gestellte Rezensionsexemplar.)
Zusatz-Info:
Der zweite Band der „Trilogie der Väter“ ist im März 2019 unter
dem Titel „Über Meereshöhe“ im Verlag Klaus Wagenbach erschienen und kostet
13,90 EUR.
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