Bei Kurzgeschichten bin ich immer etwas skeptisch. Wird es
mir genug sein, wenn die Geschichte nur 50 Seiten lang ist? Ja, wenn sie so
meisterhaft erzählt sind wie diese, dann machen sie mich richtig glücklich!
Dieser Band umfasst sieben Geschichten, in denen es um Liebe und Beziehungen
geht. Nicht immer die Liebe zwischen Mann und Frau, auch mal die Liebe zwischen
Vater und Sohn. Besonders geht es darum, wie Menschen manchmal vor der Liebe fliehen,
sie nicht ganz an sich heran lassen, oder wie die Liebe aus ihrem Leben flieht.
Wundervoll ist die erste Geschichte „Das Mädchen mit der
Eidechse“. Das Mädchen und das Reptil sind auf einem Gemälde abgebildet, das
ein Junge von Kindheit an im Arbeitszimmer seines Vaters hängen sieht. Er merkt
bald, dass es etwas Besonderes mit diesem Bild auf sich haben muss, dass die
Mutter es nicht so sehr mag, der Vater es aber wie einen Schatz hütet. Wir
begleiten den Jungen und das Bild bis in die Studentenzeit. Bis unser Erzähler
sich genauer auf die Spur begibt und Nachforschungen zur Herkunft und Bedeutung
des Bildes anstellt. Das Ende ist überraschend. Wie in allen Geschichten dieses
Bandes.
„Der Seitensprung“ ist eine Ost-West-Geschichte. Eine
Freundschaft zwischen dem Erzähler aus dem Westen sowie Sven, Paula und ihrer
Tochter Julia aus dem Osten beginnt im geteilten Berlin, übersteht den
Mauerfall, verändert sich dadurch jedoch. Zuerst ist die Welt des jeweils
anderen fremd und dadurch interessant. Nach der Wiedervereinigung bleibt aber
so viel persönliches Interesse erhalten, dass man sich weiter regelmäßig
trifft. Die euphorische Stimmung nach dem Mauerfall verfliegt und es ist Zeit
für eine kritische Betrachtung. Spannend! Könnte jedem passieren.
In der Geschichte „Der Andere“ treffen wir einen Witwer, der
durch Zufall erfährt, dass seine Frau vor vielen Jahren eine Beziehung zu einem
anderen gehabt haben muss. Auf eher skurrile Weise kommt er mit diesem Mann in
Kontakt, jedoch zunächst ohne sich zu erkennen zu geben. Was fand seine Frau an
diesem Mann, der so ganz anders ist, als er selbst? Ist er nicht etwas
oberflächlich und geckenhaft? Der Andere ist jedoch nicht, wie er zuerst
erscheint. Und das Ende ist wiederum völlig anders als gedacht. Unglaublich toll
erzählt!
„Zuckererbsen“ nimmt Bezug auf ein Heine-Gedicht, in dem es „Zuckererbsen
für alle“ geben soll, Überfluss. Der Architekt Thomas ist ein Lebemann, dem die
Dinge zuzufallen scheinen. Es läuft gut im Beruf, seine Teilhaberin wird
schwanger, man heiratet, die Familie wächst. Alles gut. Aber Thomas hat viele
Talente, und so interessiert sich eine Galeristin für seine Gemälde und
Zeichnungen. Man kommt nicht nur geschäftlich gut miteinander aus, es
entwickelt sich eine Affäre und mehr. Endgültig kommt sich Thomas wie ein
Jongleur vor, der immer mehr Bälle gleichzeitig in der Luft hält, als sich sein
Leben um eine weitere Person erweitert. Selbstredend wissen die Beteiligten
nichts voneinander, von Thomas‘ Zweit-, Dritt- und Mehrfachleben. Ihm geht es
ganz gut damit, trotz gelegentlicher Gewissensbisse. Dann aber trifft er einen
radikalen Entschluss. Dieser führt zu Veränderungen, die er so nicht geplant
hatte. Und dann ist die Leserin verblüfft, wer am Schluss was jongliert.
„Die Beschneidung“ ist ein wichtiges Ritual in der jüdischen
Religion. Mit dieser kommt der Deutsche Andi bei einem beruflichen Auslandsjahr
in New York in Kontakt, als er sich in Sarah verliebt. Natürlich ist er kein
Nazi, ist lange nach dem Krieg geboren. Aber wie geht man als Deutscher mit
einer Familie um, in der es Auschwitz-Überlebende gibt? Was sagt man, wenn man
erklären soll, was genau der eigene Vater als Soldat im 2. Weltkrieg gemacht
hat? Und ist es gerecht, wenn ihm gesagt wird, er werde gemocht, obwohl er
Deutscher sei? Andi setzt sich mit diesen schwierigen Fragen auseinander und
versucht, bei allen Unterschieden eine gemeinsame Basis für eine Beziehung zu
schaffen.
In „Der Sohn“ geht ein Professor für Völkerrecht als
deutscher Beobachter in ein Krisengebiet, um den Friedensprozess zwischen
Militär und Rebellen zu unterstützen. Dort mit Krieg und Tod konfrontiert, muss
er an seinen erwachsenen Sohn denken und an das, was wahrhaft wichtig ist im
Leben. Hat er seinem Sohn je gesagt, dass er ihn liebt? So richtig
ausdrücklich, wie man es in amerikanischen Filmen sieht? Was für ein Vater ist
er seinem Sohn gewesen, als die Ehe der Eltern geschieden war? Die
Extremsituation, in der er sich befindet, wirkt als Katalysator und bringt ihm
in kürzester Zeit viele Erkenntnisse.
„Die Frau an der Tankstelle“ ist ein Traum, den der Erzähler seit Jugendtagen geträumt hat. Sie ist eine schöne Unbekannte mit besonderem Reiz. In der eigentlich glücklichen Ehe des Erzählers läuft es gut, der Reiz allerdings nimmt mit den Jahren ab, vor allem als die Kinder aus dem Haus sind. Es bleiben Alltagsroutinen, aber die können ja auch schön und vertraut sein. Das Ehepaar macht Pläne für den nächsten Lebensabschnitt, versucht alte Träume endlich wahr werden zu lassen, für die sie früher weder Zeit noch Geld gehabt hatten. Aber was passiert, wenn Träume wirklich wahr werden? Manchmal lässt einem das Leben nur eine einzige Sekunde, um eine radikale Entscheidung zu treffen.
„Die Frau an der Tankstelle“ ist ein Traum, den der Erzähler seit Jugendtagen geträumt hat. Sie ist eine schöne Unbekannte mit besonderem Reiz. In der eigentlich glücklichen Ehe des Erzählers läuft es gut, der Reiz allerdings nimmt mit den Jahren ab, vor allem als die Kinder aus dem Haus sind. Es bleiben Alltagsroutinen, aber die können ja auch schön und vertraut sein. Das Ehepaar macht Pläne für den nächsten Lebensabschnitt, versucht alte Träume endlich wahr werden zu lassen, für die sie früher weder Zeit noch Geld gehabt hatten. Aber was passiert, wenn Träume wirklich wahr werden? Manchmal lässt einem das Leben nur eine einzige Sekunde, um eine radikale Entscheidung zu treffen.
Das Besondere an Schlinks Erzähltechnik
ist, dass sie meist mit einem großen Knall von Informationen beginnt. Der Autor
schafft es, zu Beginn jeder Geschichte mit wenigen geladenen Sätzen eine dichte
Atmosphäre zu weben, die einen sofort mitten hinein in das Leben und Denken eines
anderen katapultiert.
„Wenige Monate nach seiner Pensionierung starb seine Frau. Sie hatte Krebs, nicht mehr zu operieren oder sonst zu behandeln, und er hatte sie zuhause gepflegt. Als sie tot war und er sich nicht mehr um ihr Essen, ihre Notdurft und ihren ausgezehrten, wundgelegenen Körper kümmern musste, musste er sich um das Begräbnis kümmern, um Rechnungen und Versicherungen und darum, dass die Kinder bekamen, was sie ihnen zugedacht hatte. (…) Dann traf ihn das Bewusstsein, dass sie tot war, wie ein Schlag.“ (S. 97, „Der Andere“)
Diese wenigen Sätze wären Stoff genug, um aus ihnen eine
eigene Geschichte zu machen. Diese bleibt jedoch angedeutet. Jetzt geht es erst
richtig los. Das Tempo der Erzählung verlangsamt sich etwas, geht dennoch mit
viel Spannung voran, durch das Denken und die Dialoge des jeweiligen Erzählers,
bis zu einem stets überraschenden Schluss. Nun könnte man denken, das Ende sei
wiederum ein erzählerischer Knalleffekt. Dem ist aber nicht so. Lapidar und sachlich
wird etwas Ungeheuerliches berichtet, die Geschichte rollt leise aus wie eine
Welle, die über den Strand leckt. Aber genau diese sozusagen „antizyklische“ Erzählweise
– von laut zu leise – vermehrt nur den Effekt. Genial!
Dieser Band enthält nicht eine schwache Story, er ist eine
Sammlung von Glanzlichtern. Die Charaktere sind extrem unterschiedlich in ihren
Persönlichkeiten. Auch wenn mir die Denk- und Lebensweise einzelner völlig
fremd ist, kann ich sie doch stets gut nachvollziehen, merke gleich wie sie „ticken“,
weil Schlink die Leserin so gut hinein nimmt, in den Strom der Gedanken. Ich
bleibe am Ende jeder Geschichte zufrieden zurück mit dem Gefühl, alles was ich
brauchte gehört zu haben. Die Erzählung ist rund, ich muss keinen ganzen Roman
lesen, um sie zu erfassen.
Die besten
Kurzgeschichten, die ich je gelesen habe! Fabelhaft!
Liebesfluchten, Bernhard Schlink, Diogenes Verlag Zürich 2001,
308 Seiten, 12,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher
Erlaubnis des Verlags.)
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