Luise, die Ich-Erzählerin,
lebt in einem kleinen Dorf im Westerwald. Dort lebt auch ihr bester
Freund Martin, der am selben Tag wie sie geboren wurde. Das Dorf ist
unspektakulär, ja provinziell. Es gibt einen Einzelhändler, einen Optiker,
Bauern und einige andere Dorfbewohner mit ihren Macken. Mittelpunkt und ruhender
Pol von Luises Leben und dem der meisten Dorfbewohner ist Selma, Luises
Großmutter. Sie ist nicht so abergläubisch wie ihre Schwägerin Elsbeth, sondern
eher skeptisch und bodenständig. Sie überblickt die Lage, z.B. dass man ein
Auge auf Martins Vater Palm haben muss, der zu viel trinkt, seit Martins Mutter
nicht mehr da ist. Oder dass einer sich besser um Luise kümmern sollte, da ihre
Eltern nur mit sich selbst beschäftigt sind. Sie nimmt sogar den übergroßen
Hund Alaska immer wieder in Pflege, den Luises Vater zur „Externalisierung
seines Schmerzes“ angeschafft hat.
Manchmal träumt Selma von einem Okapi. Sie steht dann im
Traum im Nachthemd neben dem Tier auf der Uhlheck in der Nähe des Dorfes. Zum
Glück träumt Selma das nicht sehr oft. Denn wenn das Okapi auftaucht, bedeutet
es, dass jemand sterben wird. Selbst die nicht abergläubischen Leute im Dorf
wissen, dass das stimmt. Nur wen es treffen wird, das weiß niemand.
„‘Luise‘, rief Frederik, ‚was ist eigentlich ein Okapi? ‘Ich drehte mich um. ‚Das Okapi ist ein abwegiges Tier, das im Regenwald lebt‘, rief ich, ‚es ist das letzte große Säugetier, das der Mensch entdeckt hat. Es sieht aus wie eine Mischung aus Zebra, Tapir, Reh, Maus und Giraffe.‘“ (S. 139)
Unter Selmas Fittichen mit ihrer Lebensklugheit und
unerschütterlichen Wärme lässt sich Luises Leben ganz gut aushalten, auch wenn das
Schicksal manchmal schwer zuschlägt. Auch der Optiker ist immer parat, wenn
jemand gebraucht wird. Überhaupt kümmern sich die Dorfbewohner recht gut
umeinander, ertragen geduldig die Macken des anderen und ziehen einander durchs
Leben, auch wenn sie manchmal so genervt sind, dass sie einander buchstäblich
umbringen könnten.
Dieses Leben plätschert hinterwäldlerisch vor sich hin, die
Dinge ergeben sich eben. Man geht in der Kreisstadt zur Schule, verkehrt mit
den Dorfbewohnern, findet einen Arbeitsplatz in der Nähe und bleibt natürlich
im Dorf wohnen. Und Luise „hatte selten einer Sache dazwischengefunkt, die sich
so ergeben hatte“ (S.260). Genau das ist aber das Problem. Luises Vater findet schon lange, dass alle mal „mehr Welt hereinlassen“
(S. 14) müssten – und macht sich in selbige aus dem Staub. Aber ob das besser
ist?
Selbst wenn mancher sich vornimmt, heute endlich alles
anders zu machen, gegen den Strom zu schwimmen und endlich alles auszusprechen,
- insbesondere angesichts eines geträumten Okapis - ist der Gegenwind des
Alltagstrotts doch nicht zu unterschätzen.
„Der Optiker hatte in sich eine ganze Wohngemeinschaft voller Stimmen. Es waren die schlimmsten Mitbewohner, die man sich vorstellen konnte. Sie waren immer zu laut, vor allem nach zweiundzwanzig Uhr, sie verwüsteten die Inneneinrichtung des Optikers, sie waren viele, sie zahlten nie, sie waren unkündbar.“ (S. 34) „Der Optiker wusste, dass er torkelte, weil die inneren Stimmen ihn anrempelten. ‚Klappe halten‘, sagte der Optiker (…).“ (S. 35)
Treffend bildhaft und mit viel Humor betrachtet Luise ihr
Leben und das der anderen, hat Verständnis für die Schwächen der verschrobenen,
aber durchweg liebenswerten Menschen um sich herum und wird erwachsen. Genau
wie Selma spürt sie, wenn das Leben im Begriff ist, sich total zu wandeln. Ein
sehr eigenartiger Mann in schwarzer Kutte taucht auf. Kommt der nun aus Hessen
oder aus Japan? Oder beides? Wohin gehört Luise und wo findet das wirkliche
Leben eigentlich statt, im Dorf oder auf den sieben Weltmeeren? Sind innere
Verstocktheit und Verschwommenheit heilbar? Und ist „Heimliche Liebe“ nur ein Eisbecher
in Albertos Eisdiele?
Dieser Roman ist gleichermaßen tiefsinnig und komisch, die wunderbaren,
fantasievollen Formulierungen haben mich durch ihren leisen Humor zum Lachen gebracht.
Die Geschichte ist unspektakulär und gleichzeitig anrührend, die Charaktere
authentisch gerade durch ihre Schwächen, in denen sich jeder ein bisschen
wiedererkennen kann. Nicht umsonst ist dieser Roman in seinem Erscheinungsjahr 2017
zum „Lieblingsbuch der Unabhängigen“ gewählt worden, einer Initiative von
unabhängigen, inhabergeführten Buchhandlungen.
Dieser humorvolle,
leise und doch schwungvolle Roman hat absolutes Lieblingsbuch-Potenzial!
Verschlingen!
Was man von hier aus sehen kann, Mariana Leky, DuMont
Buchverlag Köln 2017, 319 Seiten, 20,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher
Erlaubnis des Verlags.)
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