Die Sammlung beginnt mit „Rausch“, aus meiner Sicht die Beste
der Erzählungen. Dem Titel nach hätte es sich um rauschende Pariser Nächte in
den goldenen Zwanzigerjahren handeln können – tut es aber nicht. Es geht um den
Alkoholrausch der Revolutionäre und ihrer Feinde, die aus Russland in das
benachbarte Finnland gekommen sind. Um Offiziere, die sich verstecken und von
Orgien mit Zigeunerinnen träumen, um Männer, die das Leben ohne Alkohol –
welcher verboten ist – nicht ertragen können. Sie plündern, saufen, huren und töten.
Das alles berichtet eine junge Frau, die ein langweiliges Leben an der Seite
eines viel älteren Ehemannes führt und ihren Bruder versteckt, ihn jedoch schlussendlich
nicht retten kann.
Hier zeigt sich das Morbide, das allen Erzählungen
Némirovskys anhaftet. Leidenschaftlich erzählt sie über menschliches Leid, über
dramatische Ereignisse, die auch Tod, Verrat und Gewalt einschließen, zumeist
im Umfeld von Paris zwischen den beiden Weltkriegen. Es gibt verhärmte alte
Jungfern, viel unglückliche Liebe, vom Krieg gezeichnete Soldaten und gleichgültige
alte Männer, die dem Leben nur noch als Zuschauer beiwohnen. Erstmals sind die
Erzählungen in Zeitschriften in der Zeit von 1934 bis 1941 erschienen. Die
späteren Geschichten sind vom ausbrechenden Krieg gezeichnet. So heißt es in „Der
Zuschauer“:
„Europa hat den Zauber von Geschöpfen, die bald sterben werden. (…) Das ist sein größter Reiz.“ (S. 162)
Als ob ihn das alles nichts anginge, da er einer neutralen
Nation angehört, überlegt der Protagonist zynisch:
„Dabei wäre es interessant gewesen, den Beginn dieses Krieges zu beobachten! Was würden alle diese Leute empfinden? Welcher Aufruhr in Ihrem Innern!“ (S. 168)
Leider konnten die Erzählungen mich nicht wirklich fesseln,
vielleicht weil der Zynismus und die Leidenschaft für meinen Geschmack etwas zu
theatralisch, zu dramatisch ausgefallen sind. Die Erzählungen sind sicher ein
wertvolles Zeitdokument. Die großen Gefühle und menschlichen Abgründe bleiben jedoch
plakativ, die Handlung schleppt dahin, trotz der Kürze der Geschichten. Die
Sprache Nemirovskys ist durchaus abwechslungsreich, der Grundton aber sehr
dunkel, pessimistisch und morbide.
Als Lesevergnügen nur bedingt geeignet.
Als Lesevergnügen nur bedingt geeignet.
Meistererzählungen, Irène Némirovsky, aus dem Französischen von Eva Moldenhauer, btb-Verlag, Verlagsgruppe Random House GmbH München 2013, 224 Seiten, 9,99 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)