Wie habe ich auf dieses Buch gewartet! Die erste Biografie
über Tove Ditlevsen auf Deutsch! Seit ich die Kopenhagen-Trilogie sowie alle
anderen auf Deutsch verfügbaren Bücher von Tove Ditlevsen gelesen bzw.
verschlungen habe, will ich unbedingt mehr über diese ungewöhnliche Frau
wissen. Aber es gab auch online nur Quellen auf Dänisch.
Braucht es überhaupt eine Biografie über diese Frau, die
doch in so viele ihrer Werke ihre Biografie hat einfließen lassen? Wissen wir
nicht schon alles über Kindheit, Jugend und Eheleben, insbesondere aus der
Trilogie? Oh nein! Wissen wir nicht! Denn natürlich hat Tove Ditlevsen ihre
eigenen Erlebnisse in ihren Roman verfremdet, sehr subjektiv dargestellt und
auch bestimmte Bereiche vollkommen ausgespart, etwa große Teile ihrer eigenen
Mutterrolle.
Jens Andersen ist als phantastischer Biograf bekannt (z.B. seine
Biografie über Astrid Lindgren ist hervorrangend!). Er ist selbst Däne und
hatte bereits 1997 eine Biografie über Tove Ditlevsen veröffentlicht. Das
vorliegende Buch ist sein zweites Buch über die Schriftstellerin, das 2022 auf
Dänisch erschienen und nun auch übersetzt worden ist. Offenbar bedurfte die
Lebensgeschichte dieser komplizierten Frau einer Neubetrachtung im 21.
Jahrhundert. Denn der weltweite Erfolg der Neuübersetzungen von Ditlevsens
Büchern zeigt das inzwischen stark gestiegene Interesse an (weiblicher)
Autofiktion. Ditlevsen war eine der Vorreiterinnen dieses Genres und ihre Bedeutung
für die Literatur allgemein wird aus heutiger Sicht wohl deutlich höher
einzuschätzen sein als noch vor einigen Jahren.
Ich habe in der Biografie viel Neues über Tove Ditlevsen
erfahren, zumal viele externe Quellen eine Außensicht auf sie ermöglichen, und
das Buch sehr schnell durchgelesen. Der Text ist allerdings so dicht, dass ich
das Buch zeitweise kurz schließen und das Gelesene verarbeiten musste. Einziges
Manko des Buches ist seine zu sparsame Gliederung. Es gibt acht Kapitel ohne Überschriften,
in denen das Leben der Schriftstellerin nicht chronologisch erzählt wird. Auch
gibt es kein Personen- oder Schlagwortregister, so dass man einzelne
Informationen schlecht wieder auffinden kann. Allein das Quellenverzeichnis ist
aber eine Fundgrube! Mir war bekannt, dass keines von Ditlevsens Kindern sich
je öffentlich zum Leben mit ihrer Mutter geäußert hatte. Es kann nicht leicht
gewesen sein, ihr Kind zu sein. In 2023 ist jedoch auf Dänisch ein Buch ihrer Enkelin
Lise Munk Thygesen erschienen, in der diese den sexuellen Missbrauch ihrer
Mutter durch den Stiefvater, Tove Ditlevsens vierten Ehemann, beschreibt. Diese
Enthüllung hat in Dänemark offenbar große Wellen geschlagen. Das Buch trägt weiter
zur Ambivalenz der Figur Ditlevsen bei, die offenbar von dem Missbrauch gewusst
hat und eher mit Eifersucht auf die eigene Tochter reagiert hatte, anstatt
diese zu schützen. Tatsächlich ist in mehreren Büchern Ditlevsens zu lesen,
dass sie ein „Verhältnis“ im Sinne einer Liebesbeziehung zwischen ihrem Mann
und ihrer Tochter im Teenageralter vermutete, etwa in „Gesichter“. Dass diese Anspielung
keine Wahnvorstellung, sondern ein realer Umstand war, war mir nicht bewusst,
auch wenn Ditlevsen den Missbrauchscharakter anscheinend nicht gesehen hat.
Weiter lässt sich der Biografie und dem Quellenverzeichnis entnehmen,
dass Tove Ditlevsen zu Lebzeiten selbst eine Autobiografie verfasst hatte,
diesmal nicht in Romanform. Auch ist der Briefwechsel zwischen ihr und ihrem
vierten Ehemann auf Dänisch erschienen. Wie gern würde ich alle diese Bücher
lesen können! Und wie gern auch die weiteren von Tove Ditlevsen verfassten Bücher.
Dies ist ein dringlicher Appell an den Aufbau Verlag!
Noch ein Wort zur Übersetzung. Die bisher bei Aufbau erschienen
Romane und Kurzgeschichten Ditlevsens wurden von Ursel Allenstein übersetzt,
das vorliegende Sachbuch jedoch von Ulrich Sonnenberg. In der Biografie werden
zur Veranschaulichung Gedichtverse von Ditlevsen zitiert. Die Übersetzung in der
Biografie sah sich offenbar der möglichst wortgetreuen Übertragung verpflichtet,
wodurch die Gedichte jedoch ihren Rhythmus verlieren. In den Übersetzungen von
Ursel Allenstein etwa in „Kindheit“ wurde eine Nachdichtung vorgenommen, die
den charakteristischen lyrischen Ton der Dichterin erhält, dafür aber wohl
teilweise vom dänischen Wortlaut etwas abweicht. Umso deutlicher wird daran,
dass es dringend einer lyrischen Übersetzung von Ditlevsens Gedichten ins
Deutsche bedarf, um diese wirklich wahrnehmen zu können.
Bitte, gebt mir mehr
von dieser Frau auf Deutsch zu lesen, es gibt noch so viel zu entdecken! Tove Ditlevsen
wird interessanter und vielschichtiger, je mehr man von ihr erfährt!
Tove Ditlevsen – Ihr Leben, Jens Andersen, aus dem Dänischen
übersetzt von Ulrich Sonnenberg, Aufbau Verlag, Berlin, 2023, 224 Seiten, 24,00
EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher
Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung
gestellte Rezensionsexemplar.)